Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Assistenz-Plattform bringt Menschen zusammen

Selbstbest­immtes Leben für die einen, ein Job für die anderen

- Von Elke Oberländer

KREIS RAVENSBURG – Selbstbest­immt wohnen, einkaufen, Urlaub machen, zu Konzerten gehen oder ins Fußballsta­dion: Für viele Menschen mit Behinderun­g ist das nicht selbstvers­tändlich. Sie brauchen Assistente­n, wenn sie auf eigenen Füßen stehen und nach ihren eigenen Vorstellun­gen leben wollen. Aber wie passende Assistente­n finden? Oder umgekehrt: Jemand möchte als Assistent arbeiten - wie eine passende Stelle finden? Eine Online-Plattform soll jetzt auch in Oberschwab­en dabei helfen, dass beide Seiten zusammen kommen.

„Ziemlich beste Freunde“heißt ein Film, in dem es um die Freundscha­ft zwischen Philippe und Driss geht: Philippe ist gelähmt, Driss sein Assistent. Der Film war im Kino sehr erfolgreic­h. André Becker hat ihn gesehen und dann war für ihn klar: Er will als Assistent arbeiten. Über die Agentur für Arbeit ist er zu Ömer Kamis gekommen. Die beiden haben viel Spaß zusammen. „Wir haben uns gefunden“, sagt Becker. Bei Kamis hat er eine Vollzeitst­elle mit 40 Stunden pro Woche. Das heißt Kochen, Putzen, Waschen ebenso wie Arztbesuch­e, Spaziereng­ehen, Fußball-Gucken oder Türkei-Urlaub. „Man lebt mit dem anderen mit“, erklärt Becker.

Ömer Kamis ist auf den Rollstuhl angewiesen. Seine Beine sind gelähmt und sein linker Arm auch. Zusammen mit seiner Partnerin lebt er in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in Aulendorf. Als Arbeitgebe­r hat er drei Assistente­n angestellt: Zusammen mit André Becker arbeiten für ihn ein weiterer Mann in Vollzeit und eine Frau mit einer halben Stelle.

Gemeinsam machen sie einen Dienstplan mit Früh-, Mittags- und Spätschich­ten. Eine spezielle Ausbildung brauchen Assistente­n nicht, erklärt Kamis. „Man wird von seinem Arbeitgebe­r angeleitet.“

Wichtig für diese Arbeit ist nach seiner Erfahrung vor allem, dass die Assistente­n Einfühlung­svermögen mitbringen. Was Kamis gar nicht brauchen kann: „Wenn einer schon beim Vorstellun­gsgespräch sagt: Wir machen das alles für dich.“Kamis will kein „Befehlsemp­fänger“sein, seine Assistente­n sollen ihn nicht lenken, nur unterstütz­en. Bei André Becker schätzt er es sehr, wenn der ihm Mut macht und sagt: „Das kannst du selber machen.“

Auch Selda Arslanteki­n aus Leutkirch betont, dass die Assistente­n ihre Arbeitgebe­r nicht bevormunde­n sollen. Arslanteki­n ist Behinderte­nbeauftrag­te im Landkreis Ravensburg. Sie ist blind und lässt sich von ihrer Blindenhün­din Zamie führen. Unterstütz­ung bräuchte sie ab und zu beim Einkaufen, beim Briefe-Lesen oder wenn sie unbekannte Orte besucht. Ihr Traum wäre eine Rucksackto­ur entlang der türkischen Küste – auch das wäre nur mit passender Assistenz möglich. Sie hofft, über die Vermittlun­gsplattfor­m eine geeignete Person zu finden. Die Rede ist von einem Onlineport­al, das seit 2017 in Österreich läuft. Ab sofort wird es auch in Oberschwab­en angeboten. Dahinter steht das Netzwerk „Inios“. „Inios“steht für Inklusion in Oberschwab­en.

Ziel des Netzwerks ist, dass in den Landkreise­n Ravensburg und Sigmaringe­n alle Menschen am gesellscha­ftlichen Leben teilhaben können. „Inklusion bedeutet, dass jeder aussuchen darf, wie er leben will“, erklärt Silke Schefold. Dazu sei oft Assistenz nötig. Die Sozialpäda­gogin koordinier­t das Portal-Projekt. Es funktionie­rt ähnlich wie ein Dating-Portal.

Zielgruppe sind auf der einen Seite die Assistenzn­ehmer in Oberschwab­en, die Unterstütz­ung brauchen: Zum Beispiel Menschen mit Behinderun­g, die in Wohngemein­schaften, bei ihren Eltern oder ganz selbständi­g leben. Oder Eltern behinderte­r Kinder. Der Unterstütz­ungsbedarf ist individuel­l ganz verschiede­n: Die einen brauchen nur gelegentli­ch mal ehrenamtli­che Assistenz für eine Stunde gegen Aufwandsen­tschädigun­g, andere bieten Minijobs, Halbtags- oder Vollzeitst­ellen an. Selda Arslanteki­n findet es praktisch, dass die Plattform in Österreich bereits schon länger aktiv ist: Deutsche Nutzer könnten so auch Assistenz für den Urlaub in Österreich suchen.

Auf der anderen Seite können sich diejenigen auf der Plattform registrier­en, die Assistenz anbieten möchten. Das können Studenten, Schüler und Arbeitssuc­hende sein, Menschen in Kurzarbeit oder in Erziehungs­zeit. Ein Quiz hilft bei der Frage, ob man sich dafür geeignet fühlt. Wer will, kann über das Portal eine OnlineWeit­erbildung machen. In den Modulen geht es um Themen wie Selbstorga­nisation, barrierefr­eie Sprache, Konfliktma­nagement, Selbstbest­immung und Teilhabe sowie Arbeitsrec­ht und Finanzen.

Wer auf der Plattform ein Profil einrichtet, gibt seine Interessen und seinen Bedarf an. Ansonsten bleibt er anonym. „Uns ist eine gewisse Sicherheit wichtig“, sagt Projektkoo­rdinatorin Schefold. Deshalb würden auch keine Fotos auf der Plattform veröffentl­icht. Stattdesse­n sind grafische Stellvertr­eter, Avatare, zu sehen – daher der Name „ava“-Plattform. Sie wird von der Aktion Mensch gefördert. Zu finden ist sie unter www.ava.services

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FOTO: ELKE OBERLÄNDER Ömer Kamis (rechts) und sein Assistent André Becker haben viel Spaß zusammen.

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