Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Wunsch nach dem Altern zu Hause
Neue Studie zeigt: Ansprüche an Pflege werden größer und individueller
WEINGARTEN - Der Wunsch nach dem Altern in den eigenen vier Wänden ist bei Menschen zwischen 65 und 75 Jahren in der Region enorm groß. Das geht aus einer neuen repräsentativen Studie der Hochschule Ravensburg-Weingarten (RWU) hervor, deren erste Ergebnisse der„Schwäbischen Zeitung“vorliegen.
Mehr als 90 Prozent der befragten Senioren in der Region BodenseeOberschwaben können sich eine häusliche Versorgung durch einen ambulanten Pflegedienst vorstellen.
Einen Lebensabend im Altersheim lehnt dagegen eine große Mehrheit ab. „Ein Umzug ins Heim scheint eine der letztmöglichen Optionen zu sein, die insbesondere dann in Erwägung gezogen wird, wenn die häusliche Pflegesituation an ihre Grenzen kommt“, sagt Professor Maik Winter, Direktor des Instituts für Gerontologische Versorgungsund Pflegeforschung (IGVP).
Unter seiner Leitung wurden 625 Menschen aus den Landkreisen Ravensburg, Sigmaringen und Bodensee im Alter zwischen 65 und 75 befragt. Insgesamt waren 2500 Personen vom Forschungsverbund „care4care“– der von der Hochschule Esslingen geleitet wird und an dem auch die RWU und das Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung der Universität Tübingen beteiligt sind – zufällig ausgewählt und zur Teilnahme an der Befragung eingeladen worden.
Ein Viertel der Angeschriebenen füllte den Fragebogen aus. „Dies ist für eine schriftliche Befragung eine grundsätzlich hohe Resonanz und verweist bereits auf das große Interesse am Thema Pflege im Alter. Gleiches gilt für die prinzipiell recht große Bereitschaft der Befragten an weiterführenden Interviews teilzunehmen“, sagt Winter.
Wichtig ist den Menschen mit Blick auf das Altern im Eigenheim jedoch, dass die häusliche Pflege nicht allein von Angehörigen gestemmt werden muss. Neben dem favorisierten Modell des ambulanten Pflegedienstes (92,9 Prozent) kommt für vier von fünf Befragten auch eine häusliche Pflege in Kombination mit Tagespflege infrage. Eine Versorgung durch Angehörige in Kombination mit einem ambulanten Pflegedienst können sich drei Viertel der Senioren vorstellen. Für jeden Fünften kommt eine Pflege durch die eigenen Kinder überhaupt nicht infrage.
Nur rund 37 Prozent würden sich auf ein Leben im Heim einlassen. „Hieran wird einmal mehr das große
Imageproblem der stationären Altenpflege deutlich, dass zumindest teilweise auch durch die hohen privaten Zuzahlungen erklärbar ist und sich durch die aktuelle Corona-Pandemie sowie ihre Folgen für die Heime und die dort Lebenden sogar noch verstärken könnte“, meint Winter. Allerdings würde jede vierte befragte Person eher ins Heim ziehen, als den Angehörigen mit der Pflege „zur Last zu fallen“.
Die große Ablehnung der Heime wirke sich auf den Charakter der Pflegeeinrichtungen auf, meint Winter, da sich die Menschen immer später für diesen Schritt entscheiden: „Sie wandeln sich zunehmend zu Einrichtungen, in denen vorrangig schwerstpflegebedürftige Menschen am Lebensende sowie dementiell veränderte Personen versorgt werden mit abnehmender Verweildauer im Heim.“Dadurch entstehe „eine Art Teufelskreis, weil die stationäre Altenpflege für andere, ältere Personenkreise deutlich unattraktiver“werde, obwohl es mittlerweile eine Vielzahl an sehr modernen Einrichtungen gäbe.
Allerdings zeigen die Befragungen auch, dass andere Versorgungskonzepte, wie beispielsweise das betreute Wohnen, das sich drei Viertel der Befragten vorstellen können, immer attraktiver werden. Auch Wohngemeinschaften für ältere Menschen stoßen bei drei von fünf Befragten auf Zuspruch.
Während sich fast ein Drittel der Befragten schlecht oder eher schlecht zur Pflege im Alter informiert fühlt – was Winter besorgniserregend findet – kennen sich andere bereits sehr gut aus. Das werde sich auch bei den künftigen Erwartungen bemerkbar machen, die nicht nur steigen, sondern auch differenzierter ausfallen werden.
Schließlich hätten die Pflegebedürftigen von Morgen ein ganz anderes, viel liberaleres Leben geführt, als die aktuelle Generation von Pflegebedürftigen. Daher sieht Winter, dass die Kommunen mit mehr und vor allem weiterentwickelten Angeboten reagieren müssen. „Mit den heutigen Konzepten der pflegerischen Versorgung werden die Bedarfe und Bedürfnisse der zukünftig Pflegebedürftigen mit großer Wahrscheinlichkeit nicht hinreichend zu befriedigen sein“, glaubt er.
Ob der Wunsch nach dem Altern im Eigenheim realistisch ist, hängt vor allem von den individuellen Umständen ab. So lebte zum Zeitpunkt der Befragung fast jede fünfte befragte Person alleine und die Wohnung von mehr als der Hälfte war nicht barrierefrei. Zwei Drittel der Senioren
sagten, wie sehr sie auf das Autofahren angewiesen seien, um alleine zurechtzukommen.
„In durchschnittlich nahezu jedem vierten Fall sind zentrale Einrichtungen des öffentlichen und privaten Lebens, wie etwa eine Arztpraxis, eine Apotheke, ein Krankenhaus aber auch nahestehende Personen oder ein Lebensmittelgeschäft gar nicht oder nur schwer mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar“, unterstreicht Winter. „Unter diesen Bedingungen können die hoch geschätzten eigenen vier Wände schnell auch zu einer Art ´Gefängnis´ werden.“
Bei der Studie wurden, mit Blick auf eine mögliche Pflege, auch die Sorgen erfragt. Dabei nannten die Teilnehmer vor allem die Einschränkungen der privaten Interessen, die Angst vor schlechter Pflege sowie das Thema Vereinsamung als zentrale Punkte. „Demgegenüber fällt die Befürchtung, dass sich die Beziehung zu Angehörigen aufgrund einer Pflegebedürftigkeit verschlechtern könnte, am geringsten aus und auch vor Schutzlosigkeit sowie Gewalt im Falle einer Pflegebedürftigkeit haben erfreulich wenig der Befragten Angst“, konstatiert Winter.
Bei der Frage, was eine Pflegekraft leisten muss, stand das pflegerische Können mit 80 Prozent ganz vorne, gefolgt von der Erwartung, dass die eigenen Wünsche respektiert werden. Auch Höflichkeit, Verlässlichkeit
und gute Deutschkenntnisse wurden genannt. Ob eine Pflegekraft aus dem gleichen Kulturkreis kommt oder dasselbe Geschlecht hat, ist für die Befragten dagegen überhaupt nicht wichtig.
Die Ergebnisse der Studie sollen bereits jetzt in das duale Pflegestudium der RWU einfließen, werden aber auch weiterhin bis zum Ende der Projektlaufzeit im Frühjahr 2022 ausgewertet. Nach einem Austausch mit betroffenen Personen will das Projektteam dann Handlungsempfehlungen entwickeln, die sie der Politik und Pflegeeinrichtungen zur Verfügung stellen werden.