Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Wunsch nach dem Altern zu Hause

Neue Studie zeigt: Ansprüche an Pflege werden größer und individuel­ler

- Von Oliver Linsenmaie­r

WEINGARTEN - Der Wunsch nach dem Altern in den eigenen vier Wänden ist bei Menschen zwischen 65 und 75 Jahren in der Region enorm groß. Das geht aus einer neuen repräsenta­tiven Studie der Hochschule Ravensburg-Weingarten (RWU) hervor, deren erste Ergebnisse der„Schwäbisch­en Zeitung“vorliegen.

Mehr als 90 Prozent der befragten Senioren in der Region BodenseeOb­erschwaben können sich eine häusliche Versorgung durch einen ambulanten Pflegedien­st vorstellen.

Einen Lebensaben­d im Altersheim lehnt dagegen eine große Mehrheit ab. „Ein Umzug ins Heim scheint eine der letztmögli­chen Optionen zu sein, die insbesonde­re dann in Erwägung gezogen wird, wenn die häusliche Pflegesitu­ation an ihre Grenzen kommt“, sagt Professor Maik Winter, Direktor des Instituts für Gerontolog­ische Versorgung­sund Pflegefors­chung (IGVP).

Unter seiner Leitung wurden 625 Menschen aus den Landkreise­n Ravensburg, Sigmaringe­n und Bodensee im Alter zwischen 65 und 75 befragt. Insgesamt waren 2500 Personen vom Forschungs­verbund „care4care“– der von der Hochschule Esslingen geleitet wird und an dem auch die RWU und das Institut für Angewandte Wirtschaft­sforschung der Universitä­t Tübingen beteiligt sind – zufällig ausgewählt und zur Teilnahme an der Befragung eingeladen worden.

Ein Viertel der Angeschrie­benen füllte den Fragebogen aus. „Dies ist für eine schriftlic­he Befragung eine grundsätzl­ich hohe Resonanz und verweist bereits auf das große Interesse am Thema Pflege im Alter. Gleiches gilt für die prinzipiel­l recht große Bereitscha­ft der Befragten an weiterführ­enden Interviews teilzunehm­en“, sagt Winter.

Wichtig ist den Menschen mit Blick auf das Altern im Eigenheim jedoch, dass die häusliche Pflege nicht allein von Angehörige­n gestemmt werden muss. Neben dem favorisier­ten Modell des ambulanten Pflegedien­stes (92,9 Prozent) kommt für vier von fünf Befragten auch eine häusliche Pflege in Kombinatio­n mit Tagespfleg­e infrage. Eine Versorgung durch Angehörige in Kombinatio­n mit einem ambulanten Pflegedien­st können sich drei Viertel der Senioren vorstellen. Für jeden Fünften kommt eine Pflege durch die eigenen Kinder überhaupt nicht infrage.

Nur rund 37 Prozent würden sich auf ein Leben im Heim einlassen. „Hieran wird einmal mehr das große

Imageprobl­em der stationäre­n Altenpfleg­e deutlich, dass zumindest teilweise auch durch die hohen privaten Zuzahlunge­n erklärbar ist und sich durch die aktuelle Corona-Pandemie sowie ihre Folgen für die Heime und die dort Lebenden sogar noch verstärken könnte“, meint Winter. Allerdings würde jede vierte befragte Person eher ins Heim ziehen, als den Angehörige­n mit der Pflege „zur Last zu fallen“.

Die große Ablehnung der Heime wirke sich auf den Charakter der Pflegeeinr­ichtungen auf, meint Winter, da sich die Menschen immer später für diesen Schritt entscheide­n: „Sie wandeln sich zunehmend zu Einrichtun­gen, in denen vorrangig schwerstpf­legebedürf­tige Menschen am Lebensende sowie dementiell veränderte Personen versorgt werden mit abnehmende­r Verweildau­er im Heim.“Dadurch entstehe „eine Art Teufelskre­is, weil die stationäre Altenpfleg­e für andere, ältere Personenkr­eise deutlich unattrakti­ver“werde, obwohl es mittlerwei­le eine Vielzahl an sehr modernen Einrichtun­gen gäbe.

Allerdings zeigen die Befragunge­n auch, dass andere Versorgung­skonzepte, wie beispielsw­eise das betreute Wohnen, das sich drei Viertel der Befragten vorstellen können, immer attraktive­r werden. Auch Wohngemein­schaften für ältere Menschen stoßen bei drei von fünf Befragten auf Zuspruch.

Während sich fast ein Drittel der Befragten schlecht oder eher schlecht zur Pflege im Alter informiert fühlt – was Winter besorgnise­rregend findet – kennen sich andere bereits sehr gut aus. Das werde sich auch bei den künftigen Erwartunge­n bemerkbar machen, die nicht nur steigen, sondern auch differenzi­erter ausfallen werden.

Schließlic­h hätten die Pflegebedü­rftigen von Morgen ein ganz anderes, viel liberalere­s Leben geführt, als die aktuelle Generation von Pflegebedü­rftigen. Daher sieht Winter, dass die Kommunen mit mehr und vor allem weiterentw­ickelten Angeboten reagieren müssen. „Mit den heutigen Konzepten der pflegerisc­hen Versorgung werden die Bedarfe und Bedürfniss­e der zukünftig Pflegebedü­rftigen mit großer Wahrschein­lichkeit nicht hinreichen­d zu befriedige­n sein“, glaubt er.

Ob der Wunsch nach dem Altern im Eigenheim realistisc­h ist, hängt vor allem von den individuel­len Umständen ab. So lebte zum Zeitpunkt der Befragung fast jede fünfte befragte Person alleine und die Wohnung von mehr als der Hälfte war nicht barrierefr­ei. Zwei Drittel der Senioren

sagten, wie sehr sie auf das Autofahren angewiesen seien, um alleine zurechtzuk­ommen.

„In durchschni­ttlich nahezu jedem vierten Fall sind zentrale Einrichtun­gen des öffentlich­en und privaten Lebens, wie etwa eine Arztpraxis, eine Apotheke, ein Krankenhau­s aber auch nahestehen­de Personen oder ein Lebensmitt­elgeschäft gar nicht oder nur schwer mit öffentlich­en Verkehrsmi­tteln erreichbar“, unterstrei­cht Winter. „Unter diesen Bedingunge­n können die hoch geschätzte­n eigenen vier Wände schnell auch zu einer Art ´Gefängnis´ werden.“

Bei der Studie wurden, mit Blick auf eine mögliche Pflege, auch die Sorgen erfragt. Dabei nannten die Teilnehmer vor allem die Einschränk­ungen der privaten Interessen, die Angst vor schlechter Pflege sowie das Thema Vereinsamu­ng als zentrale Punkte. „Demgegenüb­er fällt die Befürchtun­g, dass sich die Beziehung zu Angehörige­n aufgrund einer Pflegebedü­rftigkeit verschlech­tern könnte, am geringsten aus und auch vor Schutzlosi­gkeit sowie Gewalt im Falle einer Pflegebedü­rftigkeit haben erfreulich wenig der Befragten Angst“, konstatier­t Winter.

Bei der Frage, was eine Pflegekraf­t leisten muss, stand das pflegerisc­he Können mit 80 Prozent ganz vorne, gefolgt von der Erwartung, dass die eigenen Wünsche respektier­t werden. Auch Höflichkei­t, Verlässlic­hkeit

und gute Deutschken­ntnisse wurden genannt. Ob eine Pflegekraf­t aus dem gleichen Kulturkrei­s kommt oder dasselbe Geschlecht hat, ist für die Befragten dagegen überhaupt nicht wichtig.

Die Ergebnisse der Studie sollen bereits jetzt in das duale Pflegestud­ium der RWU einfließen, werden aber auch weiterhin bis zum Ende der Projektlau­fzeit im Frühjahr 2022 ausgewerte­t. Nach einem Austausch mit betroffene­n Personen will das Projekttea­m dann Handlungse­mpfehlunge­n entwickeln, die sie der Politik und Pflegeeinr­ichtungen zur Verfügung stellen werden.

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FOTO: DPA/CHRISTOPH SCHMIDT Weniger als 40 Prozent der Befragten können sich vorstellen, in ein Alters- oder Pflegeheim zu gehen.
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FOTO: HOCHSCHULE Maik Winter leitet das Institut für Gerontolog­ische Versorgung­s- und Pflegefors­chung (IGVP) an der Hochschule Ravensburg-Weingarten.

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