Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Ist die Corona-Krise auch eine Zahlen-Krise?
Wie Michael Föll, Leiter des Ravensburger Gesundheitsamts, das große Datenmaterial zur Pandemie interpretiert
KREIS RAVENSBURG - Neue Fälle, R-Wert, 7-Tage-Inzidenz: Die Corona-Krise scheint in gewisser Hinsicht auch eine Art Zahlen-Krise zu sein. Denn die große Menge an Daten, samt Rechenmethoden und Statistiken, haben in der Pandemie mitunter zu unterschiedlichen Interpretationen geführt und so teilweise für Unsicherheit gesorgt – zuletzt auch im Landkreis Ravensburg. Ein Gespräch mit Dr. Michael Föll, Leiter des Ravensburger Gesundheitsamts.
Warum unterscheiden sich die gemeldeten Corona-Fallzahlen von Land und Kreis, und was bedeutet das für die 7-Tage-Inzidenz?
Ein Beispiel, das unlängst für Verwirrung sorgte: Zwischen dem 4.und 10. November wurden dem Landesgesundheitsamt (LGA) von der Ravensburger Kreisbehörde 238 Neuinfektionen gemeldet. Laut SZ-Berechnung ergibt das bei 285 000 Einwohnern im Landkreis eine 7-Tage-Inzidenz von 83,5 (Zahl der Neuinfizierten pro Woche auf 100 000 Einwohner gerechnet). In der am 10.11. vom Land veröffentlichten Statistik, die jeden Tag um 16 Uhr an das nationale Robert-Koch-Institut (RKI) gemeldet wird, steht aber ein Wert von 190 Fällen und ein Inzidenzwert von 66,6. Ein ähnliches Bild ergab sich nun für den 25. November: Während die SZ bei 244 Fällen innerhalb der letzten sieben Tage auf einen Inzidenzwert von 85,6 kommt, gibt das Land offiziell 184 Fälle an und einen Wert von 64,5. Laut einem „Spiegel“-Bericht sollen die unterschiedlichen Daten mit einem Melde- und Übermittlungsverzug zusammenhängen. Michael Föll stellt jedoch klar: „Wie melden seit Monaten täglich um 14 Uhr korrekte und verlässliche Daten ans LGA.“Deren exakte Berechnungsmethode kennt laut eigener Aussage zwar selbst der Leiter des Kreisgesundheitsamts nicht, vermutet aber als Ursache für die Diskrepanz bei den Zahlen, dass das LGA eine Art „6 1/2 Tage-Inzidenz“berechnet, weil am letzten Meldetag einer Wochenfrist die Fälle nach 14 Uhr nicht berücksichtigt werden. Ob dies die Unterschiede von 48 und 60 Fällen, wie in obigen Beispielen, erklärt, ist wenig wahrscheinlich. Entscheidend ist für Michael Föll jedoch etwas Anderes: die amtliche Statistik, deren Kenntnis und Berechnungsmethode auch in die Festlegung der gesetzlichen RisikoSchwellen (35/50 Neuinfizierte pro Woche auf 100 000 Einwohner) eingeflossen sei. Den Vergleich mit selbst berechneten Zahlen hält Föll für unzulässig, weil hier „Äpfel mit Birnen verglichen“würden. Zulässig sei nur der Vergleich innerhalb von Werten, die mit derselben Methode errechnet wurden. Und: „Bei Vergleichen in sich haben beide Berechnungsmethoden, auch wenn ein berechnungsbedingter systematischer Unterschied besteht, die gleichen Aussagen.“Denn: Generell komme es bei der Betrachtung und Interpretation der Zahlen mehr auf die Steigung als auf die absoluten Werte an. „Für die praktische Arbeit sind hier Unterschiede zwischen zehn und 15 Prozent irrelevant.“
Die Differenz zwischen den Gesamtzahlen vom Land und den vom Kreis erfassten könnten in Zukunft laut Föll noch weiter auseinandergehen. Dies habe mit den begrenzten Kapazitäten bei den sogenannten PCRTests zu tun, weshalb dem Gesundheitsamt immer mehr positive Fälle nach (unzuverlässigeren) AntigenSchnelltests gemeldet würden. „Diese Fälle sind aber nicht meldungspflichtig ans Land, weil sie der Falldefinition des RKI nicht entsprechen“, sagt Michael Föll. Unterschiedliche Berechnungsmethoden und nun auch noch verschiedene Falldefinitionen: Die Verwirrung bei den unterschiedlichen Zahlen könnte künftig also noch zunehmen.
Warum können die fast täglich gemeldeten Zahlen der Neuinfektionen so stark von einander abweichen?
Im Durchschnitt waren es in den vergangenen Wochen vielleicht zwischen 30 und 40 Neuinfektionen, die das Ravensburger Landratsamt täglich meldete. Doch es gibt starke Ausschläge nach oben und unten. Also Tage, an denen es nur halb so viele Fälle sind, und Tage wie den 6. November: Damals gab es innerhalb 24 Stunden 72 neue Corona-Fälle. Wie sind diese Ausreißer zu erklären? „Das kann natürlich Zufall sein“, sagt Michael Föll. Der Leiter des Kreisgesundheitsamts nennt aber auch weitere mögliche Gründe. Zum Einen unterschiedliche Testkapazitäten in Laboren, die aus personellen Gründen oder wegen fehlender Testreagenzien schwanken könnten. Zum anderen aber auch ein größerer lokaler Ausbruch, wie zuletzt in Pflegeheimen in Bad Waldsee oder Argenbühl.
Bekommt das Kreisgesundheitsamt bei den täglichen Labormeldungen zu den positiven Testergebnissen auch Daten zur Einordnung, beispielsweise die Gesamtzahl der Tests und damit Infos zur Positivrate?
Weder noch, sagt Michael Föll. Das sei von den Laboren für vergleichsweise kleine Regionen organisatorisch auch gar nicht machbar. Daten wie Gesamttestzahl und Positivrate würden jedoch über das RobertKoch-Institut (RKI) kumuliert und für Bund und Länder ermittelt. Föll: „Für die Interpretation der gemeldeten Fallzahlen ist für uns eh das Gesamtbild wichtig.“
Warum ist die Zahl der aktiven Corona-Fälle nicht identisch mit der Differenz aus Gesamtzahl der Fälle und Gesamtzahl der Genesenen? Das Gesundheitsamt gibt bei ihren zumeist täglichen Meldungen immer auch die Zahl der aktiven Corona-Fälle an. Die ist jedoch schon längst nicht mehr die Differenz zwischen Gesamtzahl der Fälle und Gesamtzahl der Genesenen, wie man vermuten könnte. Der Grund liegt bei den „Genesenen“. „Ich habe von dem Begriff noch nie viel gehalten, genesen ist auch nicht gleich gesund“, sagt Michael Föll. „Wichtiger ist für uns, dass wir die Zahl der Infizierten und der Infektiösen kennen.“Statistisch gelte derjenige Infizierte als genesen, der zehn Tage in Quarantäne war und dann 48 Stunden keine Symptome zeige. Dies werde vom Gesundheitsamt auch aktiv telefonisch nachgefragt. Die sich daraus ergebende Zahl der Genesenen könne aber dennoch nur eine grobe Schätzung sein, weil es dabei viele Fehlermöglichkeiten gebe, weil manche nicht erreichbar seien oder auch länger Symptome zeigen würden.
Wann kann sich der seit Anfang November geltende Teil-Lockdown im Kreis Ravensburg frühestens in der Statistik auswirken? Bundesweit scheine sich bereits anzudeuten, dass die Zahl der Neuinfizierten nicht mehr steigt, sondern sich einpendelt, sagt Michael Föll. Der Landkreis Ravensburg könne bei dieser Entwicklung jedoch etwas nachhinken, „weil wir vergleichsweise schon niedrige Zahlen haben und sich der Teil-Lockdown deshalb mit Verzögerung bemerkbar macht“.
Welche Rolle spielt die Arbeit (sstelle) bei den Neuinfektionen? Am Anfang der Pandemie waren es die Skitouristen, später im Sommer die Reiserückkehrer, in den vergangenen Wochen sind es Familien und Privatkontakte, die Haupttreiber bei den Neuinfektionen sind. Auch die Arbeit(sstelle) spielt eine immer wichtigere Rolle beim Infektionsgeschehen. Für Michael Föll nachvollziehbar: „Wenn private Treffen durch die Corona-Vorgaben eingeschränkt sind, ist eben die Arbeit einer der Orte, wo sich die Menschen noch am häufigsten treffen.“