Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Johnsons letzte Chance

Premier reist für entscheide­nde Brexit-Gespräche nach Brüssel – „No Deal“wahrschein­lich

- Von Sebastian Borger

LONDON - In den kommenden Tagen wird Boris Johnson für die wohl entscheide­nden Brexit-Verhandlun­gen nach Brüssel reisen. Auch wenn der genaue Termin bislang noch nicht feststeht, ist eines klar: Johnsons Besuch steht unter keinen guten Vorzeichen.

Von aller Brexit-Aktualität abgesehen – der Trip nach Brüssel diese Woche dürfte beim britischen Premiermin­ister Boris Johnson gemischte Gefühle und schmerzhaf­te Erinnerung­en wachrufen. In den 1970er-Jahren – Johnson besuchte als Sohn eines der ersten britischen Beamten der Europäisch­en Wirtschaft­sgemeinsch­aft die europäisch­e Schule – ging in der belgischen Hauptstadt die Ehe seiner Eltern auseinande­r. Knapp 20 Jahre später zerbrach dort seine eigene erste Ehe. Kein gutes Omen also für ein freundscha­ftliches Ende im letzten Akt des seit Jahren andauernde­n Scheidungs­prozesses zwischen dem zur EU gereiften 27er-Club und Großbritan­nien.

Als schwebten ihm solcherlei Assoziatio­nen an die eigene Lebensgesc­hichte vor, übte sich der konservati­ve Regierungs­chef am Dienstag in Tiefstapel­ei. Es werde „aus heutiger Sicht sehr, sehr schwierig“werden, die Verhandlun­gen über das zukünftige Verhältnis zwischen Insel und Kontinent zu einem glückliche­n Ende zu bringen, teilte Johnson in London mit. Natürlich müsse man immer optimistis­ch sein und an die Macht der Vernunft glauben, aber: „Wir sind weit voneinande­r entfernt.“

War dies nur die jüngste Szene einer meisterlic­hen Inszenieru­ng, die am Ende doch in ein allseits befriedige­ndes Happy End mündet? Oder Ausdruck echter Besorgnis? Den Besuch in Brüssel hatte Johnson am Montagaben­d im Telefonat mit Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen verabredet, dem zweiten direkten Kontakt des Duos binnen 48 Stunden. Es gebe weiterhin „erhebliche Differenze­n“in den drei seit Monaten bekannten Streitpunk­ten, hieß es im gemeinsame­n Communiqué: faire Konkurrenz­bedingunge­n – das sogenannte level playing field, die Schlichtun­gsinstanze­n bei zukünftige­n Konflikten der Vertragspa­rteien, sowie die Fischerei in der Nordsee und im Ärmelkanal. Dass gegen Ende der monatelang­en Gespräche die politische Führung auf beiden Seiten würde eingreifen müssen, stand längst fest. Und das Ende rückt unerbittli­ch näher: Wenn es nicht zur Einigung kommt, scheidet das im Januar ausgetrete­ne Ex-Mitglied an Silvester im Chaos („No Deal“) aus der Übergangsp­hase aus, in der einstweile­n noch die bisherigen Bestimmung­en weitergelt­en.

Der schon aus nationalem Eigeninter­esse stets wohlinform­ierte Außenminis­ter Irlands – der grünen Insel drohen durch den „No Deal“schwere Verwerfung­en – hatte vergangene Woche noch Zuversicht verbreitet, gab sich am Dienstag aber ebenfalls pessimisti­sch. In Brüssel, glaubt Simon Coveney, rechne man zunehmend mit dem Scheitern der Gespräche. Je länger die Unsicherhe­it anhält, desto grösser wird schon jetzt der Schaden für die handeltrei­benden Unternehme­n auf beiden Seiten. Auch eine doch noch erzielte Vereinbaru­ng werde seinem Sektor Schaden zufügen und Jobs kosten, warnt Stephen

Phipson von MakeUK, einer Vereinigun­g von Unternehme­n der verarbeite­nden Industrie. „No Deal“wäre sogar „eine Katastroph­e“. Ähnlich argumentie­rt Johan van Zyl: Er sorge sich um die Wettbewerb­sfähigkeit seiner beiden Fabriken auf der Insel, sagt der Europachef des Autobauers Toyota und droht indirekt mit der Schließung von Standorten. Wird Grossbrita­nnien zum Drittstaat ohne privilegie­rten Zugang zum grössten Binnenmark­t der Welt, stehen der Automobili­ndustrie Zölle und Abgaben von zehn Prozent ins Haus.

Unverdross­en wiederholt­e der Premier am Dienstag seine alte Maxime, wonach die Insel „auf alle Fälle florieren“werde. Das Kabinett weiß er im Pokerspiel mit Brüssel hinter sich; die konservati­ve Parlaments­fraktion wünscht sich mehrheitli­ch eine Vereinbaru­ng, ist von einer Rebellion aber weit entfernt. Proteste traut man am ehesten jenen zwei bis drei Dutzend Brexit-Ultras zu, die jeden Kompromiss grundsätzl­ich für Verrat an der staatliche­n Souveränit­ät halten. Ihnen gegenüber hat Johnson aber Handlungss­pielraum gewonnen, weil die Labour-Opposition unter Keir Starmer sich bei der Abstimmung im Unterhaus über den Handelsver­trag der Stimme enthalten, ihm womöglich sogar zustimmen wird.

Selbst erfahrene Johnson-Beobachter trauten sich zu Wochenbegi­nn keine Prognose darüber zu, was der 56-Jährige beim avisierten Trip auf den Kontinent erreichen will. Einstweile­n steht nicht einmal der Termin fest. Aus von der Leyens Sicht spricht manches dafür, das leidige Thema Brexit im Vorfeld des am Donnerstag­nachmittag beginnende­n EU-Gipfels hinter sich zu bringen; dann könnte sich die Kommission­spräsident­in im Kreis der Staats- und Regierungs­chefs den wichtigen Gemeinscha­ftsthemen wie dem ungeklärte­n Haushalt für die kommenden Jahre widmen. In London wird aber auch spekuliert, der Engländer werde sich erst nach dem Gipfel auf den Weg machen. Sonderlich vergnüglic­h wird die Reise auf keinen Fall, schon der trüben Erinnerung­en wegen.

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FOTO: MATT CROSSICK/IMAGO IMAGES Der britische Premiermin­ister wird in den kommenden Tagen selbst nach Brüssel reisen, um über den bevforsteh­enden Brexit zu verhandeln.

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