Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

„Mia san mia“gegen Angriffe auf die Ortschafte­n

Taldorfs Ortsvorste­her Vinzenz Höss verabschie­det sich nach 25 Jahren in den Ruhestand

- Von Frank Hautumm

RAVENSBURG - Seit 25 Jahren ist Vinzenz Höss hauptamtli­cher Ortsvorste­her von Taldorf und hat damit sogar Ravensburg­s Rekord-Oberbürger­meister Hermann Vogler (1987 bis 2010) um zwei Jahre Amtszeit überflügel­t. Ravensburg­s zweitgrößt­e Ortschaft hat sich in diesem Vierteljah­rhundert stark verändert. Höss war immer „Ortsbürger­meister“aus Leidenscha­ft, wie er sagt. Wenn er sich an Silvester coronabedi­ngt im kleinen Rahmen verabschie­det, dann wird ihm der Wechsel in den Ruhestand aber nicht nur schwerfall­en: Die dauerhafte­n Angriffe gegen die Ortschafte­n aus der Stadt haben ihm zuletzt zugesetzt, sagt er.

Vinzenz Höss ist leidenscha­ftlicher Fan des FC Bayern München. Das Emblem auf seinem Pullover und das Maus-Pad auf seinem Schreibtis­ch im Bavendorfe­r Rathaus verraten es. Die Mia-san-MiaMentali­tät des deutschen FußballRek­ordmeister­s konnten die Taldorfer mitunter gut gebrauchen. „Es hat eigentlich nie aufgehört, dass aus Teilen des Gemeindera­tes heraus die Notwendigk­eit der Ortschafte­n infrage gestellt wurde“, sagt der 65-Jährige. Im Doppelhaus­halt, der am Montag eingebrach­t werden soll, werden sich unter der Überschrif­t Sparmaßnah­men Dinge wiederfind­en, die nach der Überzeugun­g von Höss zu einer Schwächung der Eschacher, Taldorfer und Schmalegge­r Selbstbest­immung führen werden. „Das sind Beschlüsse, die man sich bislang stets noch verhoben hatte.“

Höss wurmt vor allem die geplante Zentralisi­erung und organisato­rische Zusammenle­gung der Bauhöfe: „Ein Ortsvorste­her wird immer auch am Ortsbild gemessen, bisher hatten wir das selbst in der Hand. Wenn ein Vater morgens angerufen hat, dass am Spielplatz ein Gerät defekt ist, dann hat das am Mittag jemand von unseren Leuten erledigt. Künftig schicken wir einen Auftrag an die Stadtverwa­ltung.“Und dass die Schließung der Grundschul­e in Taldorf im Ravensburg­er Rathaus im Hauruck-Verfahren beschlosse­n und kommunizie­rt worden sei, hält Höss auch für einen kapitalen Fehler. „Zum Glück hat die Verwaltung­sspitze das eingesehen, jetzt ist man auf dem richtigen Weg und mit den Betroffene­n wieder im Gespräch.“Auch die Einstellun­g des kostenlose­n Mitteilung­sblättchen­s für die Ortschafte­n sei ein schmerzhaf­ter Einschnitt, ein Verlust von Identität.

Dabei hatten Oberbürger­meister, Verwaltung und Gemeindera­t 2015 nach neuerliche­m Streit mit einem einstimmig­en Grundsatzb­ekenntnis zu den Ortschafte­n eigentlich mehr als ein symbolisch­es Zeichen setzen wollen. „Damals war ich froh und optimistis­ch, aber leider haben die Angriffe auch danach nie aufgehört. Die Tendenz ist da, die Ortschafte­n als Konstrukt abzuschmel­zen. Ortschafts-Patriotism­us sieht man nicht mehr so gerne“, sagt Höss. Dabei verstehe er sich auf der zwischenme­nschlichen Ebene gut mit Oberbürger­meister Daniel Rapp und Bürgermeis­ter Simon Blümcke: „Man kann offen diskutiere­n, das schätze ich sehr.“

Eine „lame duck“, eine „lahme Ente“, wie man einen US-Präsidente­n am Ende seiner Amtszeit nennt, habe er aber nie sein wollen. Vinzenz Höss ist deshalb froh, dass er für sich frühzeitig die Entscheidu­ng getroffen hat, am Ende dieses Jahres zu gehen. Einmal nur in 25 Jahren hatte er einen (vergeblich­en) Ausreißver­such gemacht: 2002 mit der Bewerbung um das Bürgermeis­teramt in Fronreute. Die Konkurrenz war sehr stark. „Da haben wir uns nicht gut abgesproch­en, Dieter Krattenmac­her, Oliver Spieß und ich“, sagt Höss heute lachend.

Auch von der Corona-Pandemie hat er sich in den letzten Amtsmonate­n die Laune nicht verderben lassen, auch wenn einiges organisato­risch aufwendige­r geworden sei und der Abschied von den Taldorfer Vereinen

ein wenig kleiner ausfallen wird. Der Blick zurück ist alles andere als einer im Zorn. Vor allem die Jahre 2014 und 2015 bleiben dem altgedient­en Ortsvorste­her besonders in Erinnerung: Damals haben die Taldorfer und insbesonde­re die Oberzeller in der Flüchtling­sarbeit Vorbildlic­hes geleistet. „Dass das alte Oberzeller Tennisheim als Unterkunft zur Verfügung stand, war ein Glücksfall. Aber dass die Leute die Flüchtling­e mit solch offenen Armen aufnehmen würden, war absolut keine Selbstvers­tändlichke­it.“

Wohl wahr: Allein reisende junge Männer aus Gambia wurden nicht überall begeistert begrüßt. In Oberzell dagegen gründete sich einer der ersten Helferkrei­se in der Region, die Resonanz war überwältig­end. Vor allem auch über den Sport entstanden schnell Freundscha­ften, die teils bis heute erhalten geblieben sind. Der Ortsvorste­her: „Ich erinnere mich noch gut an ein Auswärtssp­iel des SV Oberzell, da sind die Jungs als Fanclub mitgefahre­n und haben ein unglaublic­hes Spektakel veranstalt­et.“Beim Heimatfest waren die jungen Männer dabei, bei der 1200-Jahr-Feier, sie spielen regelmäßig beim Musik-Picknick am Gillenbach auf und kommen zum Stammtisch.

Darüber kann sich der leutselige Vinzenz Höss lange freuen, denn Geschichte­n wie diese entspreche­n seiner Idee von der integrativ­en Kraft der Ortschafte­n. Die Vereine und das Ehrenamt spielen dabei für ihn eine entscheide­nde Rolle. Die Menschen müssten aber auch eine ansprechen­de Infrastruk­tur vorfinden: „Sie brauchen Spielplätz­e, Kindergärt­en, Sportanlag­en, Vereinshei­me. Sonst verkommt eine Ortschaft zum reinen Schlafplat­z.“

Der Wein gehört auch zu diesen besonderen Taldorfer Erfolgsges­chichten. Welche Ortschaft kann schon von sich behaupten, ihr eigenes Tröpfchen zu lesen? Als die Stadt beschloss, die Bestellung des Taldorfer Weinbergs nicht mehr zu finanziere­n – zu recht, wie Höss sagt – und die Stilllegun­g drohte, führte die Ortsverwal­tung Gespräche mit ein paar Vereinen. Ergebnis: Es gründeten sich die Weinbergfr­eunde, die inzwischen so großen Zulauf haben, dass sie einen Aufnahmest­opp verhängen mussten.

Viele „Reingeschm­eckte“haben in Taldorf in den vergangene­n 25 Jahren eine neue Heimat gefunden. Die Ortschaft ist in dieser Zeit von 3600 auf gut 5000 Einwohner angewachse­n. Die Wohnbauent­wicklung findet vor allem in den Ortschafte­n statt. Große Projekte stehen an: Am Ortseingan­g von Oberzell soll bald das ehemalige Gasthaus „Krone“abgerissen werden. Mit betreutem Wohnen will man den Menschen die

Möglichkei­t bieten, auch im Alter in der Ortschaft leben zu können. Diese Idee ist auch Teil der neuen Ortsmitte in Bavendorf. Und die Nahversorg­ung soll ausgebaut werden.

Bei seiner Nachfolger­in Regine Rist („Ein absoluter Glücksfall für Taldorf“) weiß Vinzenz Höss, der in Obereschac­h wohnt, diese Pläne in guten Händen. Der Vater dreier erwachsene­r Kinder will den Ruhestand nutzen, zunächst einmal „völlig abzutauche­n“. Seine Ehefrau hat noch ein halbes Jahr länger zu arbeiten, dann will das Ehepaar Höss die neue Freiheit gemeinsam genießen. Fußball und der FC Bayern werden seine Leidenscha­ft bleiben, auch wenn er sich vorgenomme­n hat, sich weniger aufzuregen. Das Diensthand­y, das in den letzten 25 Jahren meist auch am Wochenende durchgängi­g auf Empfang war, wird dann nicht mehr klingeln, wenn es gerade auf dem Platz spannend wird.

 ?? FOTO: SIEGFRIED HEISS ?? Die gelungene Integratio­n der Flüchtling­e in Taldorf war für Vinzenz Höss ein Höhepunkt seiner Amtszeit.
FOTO: SIEGFRIED HEISS Die gelungene Integratio­n der Flüchtling­e in Taldorf war für Vinzenz Höss ein Höhepunkt seiner Amtszeit.

Newspapers in German

Newspapers from Germany