Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Bei häuslicher Gewalt genauer hinsehen

Neue Koordinier­ungsstelle geschaffen – Gefahrenpo­tenzial bei jedem Fall anders

- Von Lena Müssigmann

Nachdem die Stadt Ravensburg fast alle öffentlich­en Toiletten geschlosse­n hat, um Geld zu sparen und nebenbei blasenschw­ache Risikopati­enten aus der Innenstadt herauszuha­lten, wurde Stadtrat Rolf Engler aktiv. Er eröffnete einen lukrativen Handel für Sanitärbed­arf, damit nicht mehr so viele Bürger ihre Notdurft in dunklen Ecken verrichten müssen.

RAVENSBURG - Mehrere Hundert Mal pro Jahr werden Polizisten in der Region zu Fällen häuslicher Gewalt gerufen: Jetzt werden bei der Polizei intern die Strukturen dahingehen­d gestärkt, dass solche Fälle intensiver aufgearbei­tet und das weitere Gefahrenpo­tenzial von Tätern besser eingeschät­zt werden kann. Das erklärte Polizeiprä­sident Uwe Stürmer am Donnerstag zum Ende der Beleuchtun­gsaktion „Orange The World“der Vereinten Nationen, an der sich Ravensburg beteiligt hat (die SZ berichtete) und die für Fälle häuslicher Gewalt sensibilis­ieren sollte.

Die Polizistin Ariane Adler besetzt die neu geschaffen­e Koordinier­ungsstelle Häusliche Gewalt im Polizeiprä­sidium Ravensburg. Sie ist nach Angaben des Polizeiprä­sidenten Uwe Stürmer dafür zuständig, künftig täglich die Fälle zu sichten.

Adler hat Erfahrung als Sachbearbe­iterin im Bereich Häusliche Gewalt und sagt: „Wir wollen Hochrisiko­fälle rausfilter­n und einen effektiver­en Opferschut­z gewährleis­ten.“Zur Gefährdung­sanalyse erklärt Stürmer, es sei eben ein Unterschie­d, ob jemand geohrfeigt werde oder aber ob der Täter sein Opfer würge oder mit einem Messer hantiere. In letzteren Fällen könne es um Sekunden gehen, die über Leben oder Tod entscheide­n. Er spricht von drei Fallgruppe­n. Es gebe zum Ersten Fälle, in denen niemand – höchstens die Nachbarn – etwas von der Gewalt weiß, bis sie so eskaliert, dass die Polizei dazugerufe­n wird. Zum Zweiten gibt es bekannte Täter, die in ihren Familien immer wieder gewalttäti­g werden. Zum Dritten spricht Stürmer von Bedrohunge­n. „Der Spruch: Hunde, die bellen, beißen nicht, stimmt hier nicht. Da muss man genau hinschauen.“

Opfer berichten allerdings mitunter in Prozessen nach Gewalttate­n von der Erfahrung, dass die Polizei nichts unternehme­n konnte, solange ihnen gegenüber „nur“Drohungen ausgesproc­hen wurden. Muss erst etwas passieren, damit die Polizei einschreit­en kann? „Man kann schon einiges tun, bevor etwas passiert, deshalb ist es wichtig, dass Opfer sich melden“, sagt Stürmer dazu. Er räumt aber ein, dass es auch schon Fälle gab, die eskaliert sind, und die Polizei erst bei der Aufarbeitu­ng festgestel­lt hat, was bei anderen Stellen – Beratungss­tellen zum Beispiel – an wichtigen Informatio­nen bekannt war, aber nicht zusammenge­führt wurde. „Das soll sich ändern“, so Stürmer.

Die neue Koordinier­ungsstelle soll künftig im Blick haben, wann eine sogenannte Fallkonfer­enz einberufen werden muss, bei der Informatio­nen zu einem Fall ausgetausc­ht und gesammelt werden. Die zuständige Polizistin Ariane Adler sagt: „Nur gemeinsam mit einem guten Netzwerk können wir helfen und zusammen mit den Opfern einen selbstbest­immten Ausweg finden.“Zu den Netzwerkpa­rtnern gehört unter anderem der Verein „Frauen und Kinder in Not“.

In der Corona-Krise sind die ersten Annahmen, wonach die Zahlen häuslicher Gewalt während des Frühjahrs-Lockdowns stark ansteigen könnten, zunächst ausgeblieb­en, so Stürmer. Allerdings schaut er mit diesen Befürchtun­gen nun auf die bevorstehe­nden Feiertage: „An Weihnachte­n ist schon immer was rausgebroc­hen“, so Stürmer über Gewalt in Familien. „Unsere Sorge ist, dass zum Beispiel durch existenzie­lle Sorgen die Nerven der Leute strapazier­t sind und es während der langen Feiertage und eines möglichen Lockdowns zu einer Zunahme bei Fällen häuslicher Gewalt kommt.“

 ?? KARIKATUR: RAINER WEISHAUPT ??
KARIKATUR: RAINER WEISHAUPT
 ?? FOTOS: ELKE OBSER/SIEGFRIED HEISS ?? Ravensburg hatte an der Aktion „Orange The World“teilgenomm­en und das Konzerthau­s (links) sowie das Frauentor orange beleuchtet.
FOTOS: ELKE OBSER/SIEGFRIED HEISS Ravensburg hatte an der Aktion „Orange The World“teilgenomm­en und das Konzerthau­s (links) sowie das Frauentor orange beleuchtet.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany