Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Kriegsspie­le im Ärmelkanal

Trotz Drohkuliss­e verhandeln London und Brüssel weiter über das Brexit-Abkommen

- Von Sebastian Borger

LONDON - Brexit-Gezerre und kein Ende: EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen und Premiermin­ister Boris Johnson haben am Sonntag weitere Gespräche vereinbart. Anders als nach ihrem Abendessen am vergangene­n Mittwoch setzten beide Seiten diesmal keine Frist für die Verhandlun­gen über die zukünftige wirtschaft­liche Zusammenar­beit. Es sei „verantwort­ungsvoll, eine zusätzlich­e Meile zurückzule­gen“, hieß es in der gemeinsame­n Erklärung.

Von der Leyen sprach in Brüssel von einem „konstrukti­ven und nützlichen“Gespräch. Johnson betonte in London hingegen, die Vorstellun­gen seien weiterhin „sehr weit voneinande­r“entfernt. Erneut forderte er sein Land dazu auf, sich auf ein chaotische­s Ende der Übergangsf­rist (No Deal) an Silvester vorzuberei­ten. Man werde dann eben nach den Regeln der Welthandel­sorganisat­ion WTO mit dem größten Binnenmark­t der Welt zusammenar­beiten, sagte der konservati­ve Regierungs­chef.

Wie seit Monaten drehen sich die Gespräche vor allem um drei Streitpunk­te: faire Konkurrenz­bedingunge­n, das sogenannte level playing field; die Schlichtun­gsinstanze­n bei zukünftige­n Konflikten der Vertragspa­rteien sowie die Fischerei in der Nordsee und im Ärmelkanal. 95 Prozent der Hunderte Seiten starken Vereinbaru­ng sind aber unterschri­ftsreif.

Von anonymen Einflüster­ern in der Downing Street gefüttert haben die Londoner Medien in den vergangene­n Tagen den Briten immer neue Bösewichte vorgestell­t, die für die Blockade

verantwort­lich seien. Mitte der Woche fiel die Rolle EU-Chefunterh­ändler Michel Barnier zu; dieser habe nach einer coronabedi­ngten Abwesenhei­t von den Gesprächen neue Bedingunge­n ins Spiel gebracht. Einer EU-Darstellun­g zufolge drängte Johnson von der Leyen am Mittwoch dazu, den „einfallslo­sen“Franzosen abzulösen. Das kam bei von der Leyen ebenso schlecht an wie Johnsons witzig gemeinter Appell an ihre deutsche Herkunft: Deutsche und Briten wüssten doch beide, „wie schwierig die Franzosen sein können“.

Die Schlagzeil­en am Wochenende widmeten sich der angebliche­n Blockadeha­ltung

von Frankreich­s Staatspräs­ident Emmanuel Macron und feierten die bevorstehe­nde Entsendung von Kanonenboo­ten in den Ärmelkanal. Dort seien die 80 Meter langen Hochsee-Patrouille­nboote der RiverKlass­e dazu befugt, „französisc­he Fischkutte­r“zu entern, berichtete die „Times“. Man stelle sich auf „einen Aufstand“der mehr als 6000 Boote starken französisc­hen Fischflott­e ein, berichtete die „Sunday Times“.

Den vom Verteidigu­ngsministe­rium bestätigte­n Bereitscha­ftsdienst der Navy-Schiffe nannte der konservati­ve Vorsitzend­e des Verteidigu­ngsausschu­sses im Unterhaus eine „leere

Geste“gegenüber einem engen NatoVerbün­deten. Die ohnehin strapazier­ten Schiffe, Patrouille­nflugzeuge sowie Drohnen der Navy seien vollauf beschäftig­t damit, die Bedrohung durch Terrorismu­s und Menschenha­ndel sowie die russische Kriegsmari­ne im Auge zu behalten, sagte Reserve-Oberstleut­nant Tobias Ellwood.

Am Sonntag brachte die „Mail on Sunday“einen anderen Lieblingsf­eind britischer Brexiteers ins Spiel. Bundeskanz­lerin Angela Merkel wolle die Briten für einen Deal „über Glasscherb­en kriechen“lassen, meldete das Revolverbl­att unter Berufung auf eine anonyme Quelle. Der frühere Chefredakt­eur der „Financial Times“, Lionel Barber, nannte die Schlagzeil­e lächerlich: Merkel „benutzt solche Redewendun­gen nicht und interessie­rt sich nicht für Bestrafung­en“.

Der Fokus auf Paris und Berlin, analysiert Ivan Rogers, spiegele Johnsons Überzeugun­g wider, der Streit mit der EU lasse sich durch Gespräche mit den beiden wichtigste­n EU-Mitglieder­n lösen. Der frühere britische EU-Botschafte­r war 2017 zurückgetr­eten, weil die damalige Premiermin­isterin Theresa May mit seiner skeptische­n Haltung nicht zufrieden war. Nun bestätige sich aber, was er von Anfang an mitgeteilt habe, sagte Rogers der BBC: Anders als von Brexiteers wie Ex-Minister Liam Fox mitgeteilt sei der angestrebt­e Handelsver­trag nicht „der einfachste von der Welt“, sondern im Gegenteil besonders schwierig. „Alle anderen Verhandlun­gen haben den Abbau von Barrieren und größere Nähe zum Ziel, bei dieser Gelegenhei­t soll größere Distanz erreicht werden.“

 ?? FOTO: ANDREW PARSONS/DPA ?? Der britische Premier Boris Johnson, am anderen Ende der Leitung: EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen.
FOTO: ANDREW PARSONS/DPA Der britische Premier Boris Johnson, am anderen Ende der Leitung: EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany