Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Pöbeln im Parlament
AfD sorgt laut Studie für raueren Ton in Baden-Württembergs Landtag – Ähnliche Entwicklung auch in Bayern
STUTTGART/MÜNCHEN - Diskutieren, debattieren, streiten – all das findet in einem Parlament statt. In Baden-Württemberg kommt es im Landtag aber zunehmend auch zu Pöbeleien oder sogar Beschimpfungen. Das zeigt eine Studie des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim. Die Debattenkultur im baden-württembergischen Landtag habe sich in den vergangenen Jahren deutlich verändert, sagt Heidrun Kämper. Die Sprach- und Politikwissenschaftlerin hat die Studie im Auftrag von Deutschlandfunk und Südwestrundfunk (SWR) durchgeführt.
Dafür hat Kämper 125 Plenarprotokolle der laufenden Legislaturperiode bis Juli 2020 mit allen der vorherigen verglichen. Das Ergebnis: Seit 2016, als die AfD ins Parlament einzog, haben sich Sprache, Umgangston und Themen gewandelt. So sei die Zahl der Zwischenrufe gestiegen und empörte Diskussionen nähmen zu, heißt es in der Studie.
Muhterem Aras (Grüne) ist seit 2016 Landtagspräsidentin. Sie leitet die Landtagssitzungen – und greift ein, wenn der Tonfall zu ruppig wird. Auch sie beobachtet einen Wandel in der Debattenkultur: „Der Umgangston im Landtag ist eindeutig rauer geworden“, sagt Aras auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“. „Heftige Schlagabtausche gab es auch früher, aber sie waren doch meist von gegenseitigem Respekt geprägt.“Neu sei, dass Abgeordnete ihre Provokationen strategisch einsetzten. „Es geht ihnen letztlich darum, das Parlament vorzuführen und die parlamentarische Demokratie verächtlich zu machen“, erklärt Aras. Dazu gehört etwa das lautstarke Stören der Debatte: 137-mal wurde seit 2016 um Ruhe gebeten, in der Legislaturperiode zuvor war dies nur 39 Mal der Fall.
Ein weiteres Beispiel ist der sogenannte Ordnungsruf. Diese Art der Verwarnung ermahnt zur Disziplin, hat aber meist keine direkten Konsequenzen. Trotzdem soll der Ordnungsruf eigentlich eine der schärfsten Sanktionen gegen Abgeordnete in einer Landtagsdebatte sein. Das hat sich geändert, wie Heidrun Kämpers Studie zeigt: 135-mal haben Abgeordnete
den Ordnungsruf thematisiert, ihn also zum Beispiel für einen anderen Abgeordneten gefordert. In der vorherigen Periode hingegen kommt der Ordnungsruf nur zweimal vor. Als Sanktion taugt er laut Kämper kaum noch: „Der Ordnungsruf ist ein zahnloser Tiger“, sagte sie dem SWR.
Für Landtagspräsidentin Aras steckt hinter den Provokationen Kalkül: „Einzelne Abgeordnete inszenieren ihre Auftritte vor allem für die eigene Anhängerschaft und übernehmen dabei eine Opferrolle“, sagt sie. Es solle der Eindruck erweckt werden, dass man sie diskriminiere und in ihren Rechten als Abgeordnete beschneide. „Tatsächlich jedoch halten sich diese Abgeordneten schlicht nicht an ganz normale Anstandsregeln, die für alle Parlamentarier gelten“, erklärt Aras.
Zum Teil geht das sogar so weit, bis die Polizei kommt: Der parteilose Heinrich Fiechtner, der einst der AfD angehörte, wurde Ende Juni nach Provokationen von der Sitzung ausgeschlossen und ließ sich von Polizisten aus dem Saal tragen. Auch die Abgeordneten Stefan Räpple und Wolfgang Gedeon hatten sich im Dezember 2018 nach mehreren Ordnungsrufen von der Polizei aus dem Landtag führen lassen – ein damals noch historischer Eklat.
Mit diesen Entwicklungen steht der Südwesten nicht alleine da. „Auch im Bayerischen Landtag hat sich die Debattenkultur merklich verändert – der Ton ist deutlich rauer geworden“, sagt Ilse Aigner, Landtagspräsidentin des Parlaments in Bayern, der „Schwäbischen Zeitung“. Und auch dort scheint der Wandel in der Debattenkultur vor allem mit der AfD zusammenzuhängen: „Wir haben in dieser Legislaturperiode bereits sieben Rügen ausgesprochen, sechs davon gehen auf das Konto der AfD.“
Immer wieder kommen laut Aigner auch im Bayerischen Landtag Provokationen vor: „So ist beispielsweise ein Abgeordneter der AfD mit Gasmaske ans Rednerpult getreten, um sich offenbar gegen die Maskenpflicht zu positionieren – genau bei einer Debatte über die Gedenksteine von verurteilten NS-Kriegsverbrechern.“