Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Einigung bleibt aus
Innenminister Horst Seehofer muss EU-Asylreform ohne Durchbruch abgeben
BRÜSSEL - Neunzig Prozent des geplanten Arbeitsprogramms habe man abgearbeitet, so resümierte stolz Staatssekretär Stephan Mayer beim virtuellen Treffen der EU-Innenminister. Sein Chef Horst Seehofer hatte sich wegen eines CoronaKontaktes in Quarantäne begeben müssen. Mayer hob besonders die Einigung bei der Bekämpfung terroristischer Propaganda im Netz hervor. Online-Plattformen können nun angewiesen werden, derartige Inhalte innerhalb einer Stunde zu löschen.
Dennoch erstaunt die optimistische Bilanz, denn das brisanteste Thema wird die zum Jahreswechsel beginnende portugiesische Ratspräsidentschaft nahezu unverändert auf den Schreibtisch bekommen: Die Reform des europäischen Asyl- und Migrationsrechts. Dazu lieferte das Innenministerium gestern einen „Fortschrittsbericht“ohne nennenswerte Fortschritte.
Das sieht Mayer allerdings anders. „Wir haben es geschafft, in dieses zentrale Thema neuen Schwung zu bringen. Es ist ein Fortschritt an sich, dass alle Mitgliedsstaaten den Vorschlag der Kommission als ausreichende Grundlage für weitere Gespräche sehen. Vor einigen Jahren noch gab es Mitgliedsstaaten, die sagten: Das ist ein griechisches oder italienisches Problem, kein europäisches.“Das sieht auch die zuständige Kommissarin Ylva Johansson so. „Es ist sehr ermutigend, dass alle Mitgliedsstaaten eine positive Haltung zum Kommissionsvorschlag haben. Alle betonen auch, wie wichtig die außenpolitische Komponente ist. Ohne starke Partnerschaften mit Drittländern ist es unmöglich, die Migration in den Griff zu bekommen.“
Die EU-Kommission hat das schleppende Tempo mitzuverantworten, denn Ursula von der Leyen legte erst am 23. September, nach ausführlichen Konsultationen mit den Mitgliedsländern, einen Vorschlag vor. Ihre Strategie war es, möglichst alle Widersprüche im Vorfeld aufzulösen, um den Innenministern einen möglichst konsensfähigen Text zur Abstimmung unterbreiten zu können. Das verschlang viel Vorbereitungszeit, funktionierte aber nicht. In dieser europäischen Kernfrage, von deren Lösung letztlich auch die Zukunft des grenzfreien Europa abhängen wird, sind die Innenminister auch gestern bei ihrer letzten Sitzung unter deutscher Regie keinen Schritt weiter gekommen. Klar ist, dass die erschwerten Arbeitsbedingungen unter Pandemiebeschränkungen die bei diesem heiklen Thema nötigen Vier-Augen-Gespräche unmöglich gemacht haben.
aufzulösen versucht. Wer keine Flüchtlinge aufnehmen will, soll sich bei der Abschiebung all derjenigen, die weder Duldung noch Aufenthaltsstatus bekommen, stärker engagieren. Die in der Visegrad-Gruppe zusammengeschlossenen Staaten, die normalerweise jeden Vorschlag für eine gemeinsame Asylpolitik sofort verdammen, zeigten sich offen für die Idee. Aber nur einen Moment lang. Dann wurde ihnen wohl klar, dass als Folge ihre Länder deutlich mehr Migranten beherbergen müssten als bisher.
Denn besser geschützte Grenzen und konsequentere Rückführung sind zwar eine Lieblingsforderung rechtspopulistischer Politiker – nicht nur in Osteuropa. Oft aber scheitert die Ausführung an praktischen Problemen. Mit Syrien zum Beispiel unterhält die EU derzeit keinerlei diplomatische Beziehungen, Flüge gibt es nicht. Wie also sollten abgelehnte syrische Asylbewerber nach Hause geschickt werden können? Sie würden in Abschiebelagern in Ungarn oder der Slowakei feststecken – je nach politischer Entwicklung womöglich viele Jahre lang.
Der grüne Europaabgeordnete Erik Marquardt ist entsprechend unzufrieden mit der deutschen Arbeitsbilanz. „Die Strategie der deutschen Ratspräsidentschaft ist gescheitert. Wir sehen weiter Leid, Chaos und Gewalt gegen Schutzsuchende, aber keine Lösung. Uns steht ein weiterer Winter mit unbeheizten Zelten und Gewalt gegen Schutzsuchende bevor. Wir brauchen EU-Regierungen, die vorangehen und nicht zulassen, dass die EU Schutzsuchende erfrieren lässt.“