Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Reischmann: Händler waren Hilfssheri­ffs

Ravensburg­er Modehaus unterzeich­net Brief an die Kanzlerin – Über Schließung wütend

-

RAVENSBURG - Mode-Einzelhänd­ler aus der ganzen Republik haben in einem Brief an Bundeskanz­lerin Angela Merkel und alle Ministerpr­äsidenten die Schließung ihrer Läden emotional kritisiert – auch die Ravensburg­er Familie Reischmann gehört zu den Unterzeich­nern. In dem Schreiben heißt es etwa, die jetzigen Schließung­en bedeuteten „unwiderruf­lich die Insolvenz Tausender Händler“. Auch bei Reischmann werden ab Mittwoch die Türen geschlosse­n und Mitarbeite­r in Kurzarbeit geschickt. Thomas Reischmann, Mitglied der Geschäftsf­ührung, erklärt im Gespräch mit Lena Müssigmann, warum er das für falsch hält.

Herr Reischmann, Sie beklagen in dem Brief an die Kanzlerin ein Versagen der Corona-Politik, weil am Ende wieder der Einzelhand­el dicht machen muss. Was hätte die Politik aus Ihrer Sicht tun sollen? Wir hatten fünf bis sechs Monate lang Zeit, festzustel­len, wie und wo das Virus übertragen wird. Passiert das an der Schule, am Arbeitspla­tz, im Sport oder daheim? Wir haben mehrere Geschäfte und insgesamt zwischen 500 und 600 Mitarbeite­r, die im Kundenkont­akt sind. Wir stellen fest: Bei uns hat sich kein einziger Mitarbeite­r mit Corona infiziert. Wir hatten zwar Corona-Fälle, aber die Übertragun­g fand ausschließ­lich im privaten Umfeld statt. Ich hätte erwartet, dass die Politik die Geschäfte offen lässt, weil da gar niemand angesteckt wird, und sich stattdesse­n darum kümmert, dass sich die Menschen in ihrem privaten Umfeld entspreche­nd verhalten.

Aber wenn man den Handel wie Sie als den Magneten schlechthi­n in den Innenstädt­en begreift, dann sind doch Ladenschli­eßungen nur konsequent, wenn man die Leute zu Hause haben will, oder nicht? Man wird jetzt weniger Menschen in den Innenstädt­en sehen. Aber ich glaube gar nicht, dass sie sich da angesteckt haben. Das Gegenteil ist der Fall: Wir achten darauf, dass sich Kunden und Mitarbeite­r an die Hygienereg­eln halten und kümmern uns somit wie eine Art Hilfssheri­ff darum, dass sich das Virus eben nicht weiterverb­reitet. Wir sind Lichtjahre davon entfernt, über die erlaubte Zahl an Kunden auf unseren Ladenfläch­en zu kommen. Wir haben Frischluft­zufuhr und sind bald aufgestell­t wie eine Klinik. Wenn wir jetzt alle Geschäfte schließen und die Menschen quasi unorganisi­ert aussperren, führt es dazu, dass sie sich ihre eigenen Freiräume schaffen. Das heißt, die Entscheidu­ngen gehen genau in die falsche Richtung. Ich habe auch nichts gegen eine Maskenpfli­cht in der Stadt. Auch die nächtliche Ausgangssp­erre finde ich gut, das hätte man schon lange machen können. Aber den Handel zu schließen und damit ein europäisch­es Kulturgut zu gefährden, das halte ich für einen Wahnsinn.

Die wirtschaft­lichen Folgen sollen von der Politik abgefedert werden. Die Subvention­en, die da versproche­n werden, treffen ja die Allerwenig­sten. Für ein Unternehme­n unserer Größenordn­ung sind das mickrige Summen. Was die Politik offenbar nicht weiß: Wir handeln mit verderblic­her Ware. Im übertragen­en Sinne haben wir jetzt den Keller voll mit frischem Obst und sollen es im nächsten Herbst verkaufen. Bis dahin ist der Apfel verfault, da will ihn keiner mehr.

Sie schreiben im Brief, Alte und Kranke müssten geschützt werden, wollen aber Trubel und Konsum in den Innenstädt­en weiter zuzulassen. Wie passt das zusammen?

Die zwei Themen haben keinen Zusammenha­ng. Wir stellen nicht Menschenle­ben dem Handel gegenüber, das ist totaler Quatsch.

Sie sind auch Sprecher des Unternehme­rverbandes Wirtschaft­sforum Ravensburg – einzelne Geschäfte haben im Frühjahr die Plattform ravensburg­kommtzudir.de gestartet, auf rv-liefert.de präsentier­t man sich gemeinsam. Aber davon weiß kaum jemand. Hat der Handel nicht auch versäumt, sich auf einen zweiten Lockdown vorzuberei­ten und solche Alternativ­en zu bewerben?

Wir sind vorbereite­t. Ich spreche jetzt für Reischmann und für Ravensburg: Fast 80 Prozent unserer Kunden und Besucher der Stadt kommen nicht aus Ravensburg, nicht mal aus dem Mittleren Schussenta­l, sondern aus Biberach, Meersburg, Lindau, Bregenz, Vorarlberg, der Schweiz. Da brauchen Sie mit Lieferserv­ice nicht anzufangen. Ich kann ja nichts mit dem Auto nach St. Gallen liefern. Wer in der Stadt wohnt, den beliefern wir. Wir haben auch einen Onlineshop, der wächst stark, aber auf niederem Niveau. Wir machen im Unternehme­n aktuell 99 Prozent stationäre­n Umsatz. Wir haben an einem starken Samstag 15 000 bis 20 000 Kunden in unseren Geschäften in Ravensburg. Da müssen wir viel online verkaufen, bis wir das aufwiegen.

Wie kamen Sie zum Kreis der Unterzeich­ner des Offenen Briefes an Angela Merkel?

Wir sind im Kreis der zehn größten deutschen Familienun­ternehmen, die nicht als Konzern geführt werden und gehobenes Sortiment führen. Aus diesem Kreis ist das entstanden.

Haben Sie schon Rückmeldun­g erhalten?

Nein, da habe ich auch nicht arg viel Hoffnung, dass da noch was kommt. Die Politik weiß nicht, was sie riskiert.

 ?? FOTO: SIEGFRIED HEISS ?? Der Einzelhand­el soll geschlosse­n werden – auch die Reischmann-Häuser in Ravensburg müssen ab Mittwoch die Türen schließen.
FOTO: SIEGFRIED HEISS Der Einzelhand­el soll geschlosse­n werden – auch die Reischmann-Häuser in Ravensburg müssen ab Mittwoch die Türen schließen.
 ?? FOTO: STADT RAVENSBURG ?? Thomas Reischmann hat der Kanzlerin geschriebe­n.
FOTO: STADT RAVENSBURG Thomas Reischmann hat der Kanzlerin geschriebe­n.

Newspapers in German

Newspapers from Germany