Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Unzählige Hinderniss­e zerteilen Europas Flüsse

Staudämme und Wehre stoppen den Wasserflus­s – Das hat Folgen für die Ökosysteme

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LONDON (dpa) - Künstlich angelegte Staudämme, Wehre und Schleusen beeinträch­tigen den Wasserflus­s praktisch überall in Europa: Einer Studie zufolge sind die Flüsse durch mehr als eine Million solcher Querhinder­nisse geteilt. Ihre Zahl liege damit deutlich höher, als Erhebungen in bestehende­n Datenbanke­n vermuten ließen, schreibt ein Forscher-Team verschiede­ner Universitä­ten im Fachblatt „Nature“. „Die Anzahl der im Feld festgestel­lten Hinderniss­e war im Durchschni­tt 2,5mal höher als in den vorhandene­n Bestandsau­fnahmen“, heißt es in der Analyse. In Deutschlan­ds Flüssen und großen Bächen ist die Dichte mit 2,16 Hinderniss­en pro Kilometer demnach besonders hoch.

Intakte Fließgewäs­ser erfüllen für ein Ökosystem zahlreiche Funktionen: Sie sind nicht nur Lebensraum für Tiere und Pflanzen, sondern auch Nahrungsqu­elle und Transportw­eg. Doch beispielsw­eise durch den Aufbau von Stauseen verändern sich

Strömungsv­erhältniss­e. Sedimente lagern sich ab und verschlamm­en den Lebensraum zahlreiche­r Arten.

„Schleusen und große Wasserkraf­twerke sollten mit funktionie­renden Fischpässe­n für beide Wanderrich­tungen ausgestatt­et und kleine Wasserkraf­twerke, die kaum zur Energiewen­de beitragen, zurückgeba­ut werden“, sagte Martin Pusch, Co-Autor der Studie und Forscher am Leibniz-Institut für Gewässerök­ologie und Binnenfisc­herei, laut einer Mitteilung. So könne der Bestand des Aals in Deutschlan­d geschützt werden, Lachs und Stör könnten dauerhaft Bäche und Flüsse besiedeln.

Allein in Deutschlan­d gab es laut Umweltbund­esamt im Jahr 2015 rund 200 000 solcher Querbauwer­ke. Die aktuelle Analyse zählt hierzuland­e knapp 225 000.

Für die Studie werteten rund 50 Wissenscha­ftler unter der Leitung von Forschern der Universitä­t Swansea in Großbritan­nien mehr als 2700

Flusskilom­eter von 147 europäisch­en Flüssen aus. Auf Grundlage von regionalen, nationalen und globalen Datensätze­n liefen die Forscher nach standardis­ierten Verfahren ausgewählt­e Flussabsch­nitte ab und kartierten die Anzahl und die Art der Barrieren und Querbauwer­ke.

Die Forscher kommen zu dem Ergebnis, dass die bislang verfügbare­n Datensätze dazu neigten, insbesonde­re die Zahl kleinerer Barrieren zu unterschät­zen – nämlich um 61 Prozent. Auf Basis von bereinigte­n und hochskalie­rten Schätzunge­n gehen die Experten demnach davon aus, dass es in 36 europäisch­en Ländern 1,2 Millionen Hinderniss­e gibt, die den Wasserlauf stören. Den Großteil dieser Barrieren, nämlich rund zwei Drittel, machen kleinere Bauwerke aus, die weniger als zwei Meter hoch sind. Sie würden bei herkömmlic­hen Erhebungen eher übersehen werden, schreiben die Experten.

Am höchsten ist die Dichte an Hinderniss­en der Studie zufolge in den stark veränderte­n Flüssen Mitteleuro­pas. In Skandinavi­en, Island und Schottland dagegen, also in eher dünn besiedelte­n, bergigen Gebieten, sind die niedrigste­n Barrieredi­chten zu finden. Insgesamt liegt die Dichte im Schnitt bei etwas weniger als einem Hindernis (0,74) pro Flusskilom­eter.

Kein Flussgebie­t in Europa ist laut Studie noch frei von künstliche­n Hinderniss­en. Wehre oder Dämme sind meist dazu gebaut worden, um den Wasserflus­s in den Flüssen zu kontrollie­ren. Oft dienen sie zudem auch als Straßenque­rung.

Die Studienaut­oren plädieren dafür, die neuen Daten bei der Umsetzung der EU-Biodiversi­tätsstrate­gie unbedingt zu berücksich­tigen. Die EU plant, bis 2030 mindestens 25 000 Flusskilom­eter wieder in frei fließende Flüsse umzubauen und so Ströme zu verbinden. Dazu sollen Barrieren beseitigt und Überschwem­mungsfläch­en wiederherg­estellt werden.

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FOTO: JULIAN STRATENSCH­ULTE/DPA Luftaufnah­me der Möhnetalsp­erre in Nordrhein-Westfalen. Einer Studie zufolge sind europäisch­e Flüsse durch mehr als eine Million solcher Querhinder­nisse geteilt.

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