Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Die Pandemie hält auch die Polizei in Atem
Ein Jahr Polizeipräsidium Ravensburg: Mit Corona kam viel Unerwartetes auf die Beamten zu
RAVENSBURG - Im Januar 2020 kam das große Aufatmen: War Ravensburg von 2014 bis 2019 dem Polizeipräsidium Konstanz zugeordnet, änderten sich nun die Zuschnitte und Ravensburg bekam sein eigenes Polizeipräsidium – mit acht über die Kreise Sigmaringen, Bodensee Ravensburg verteilten Revieren und 19 Polizeiposten. Nach einem Jahr, in dem Corona die Arbeit der Beamten durcheinander gewirbelt hat, zieht Polizeipräsident Uwe Stürmer eine erste Bilanz.
Das Virus hielt die Polizei nahezu das gesamte Jahr 2020 in Atem: Zwar gab es bislang unter den fast 1250 Mitarbeitern insgesamt „nur“28 Corona-Fälle – doch die gesamte Arbeit musste radikal umgestellt werden. Interne Fortbildungen, Sport, Einsatztraining und ein Großteil der Prävention wurden ausgesetzt. Lagebesprechungen auf Leitungsebene laufen per Videokonferenzen – über ein speziell abgesichertes Netz. Die Streifenbeamten sind grundsätzlich nur noch in festen Zweier-Teams unterwegs, die Übergabe erfolgt jeweils telefonisch. Außerdem verteilen sich die Beamten im Innendienst möglichst weitläufig, um für Abstand zu sorgen – unter anderem auf Gebäude, die sonst nur für Logistik und Trainingszwecke genutzt werden. Homeoffice ist nur für wenige Kollegen aus der Verwaltung möglich, schließlich kann man sensible Daten niemandem mit nach Hause geben. Generell konstatiert Stürmer: „Corona hat uns hart getroffen, wir hatten ab 16. März plötzlich völlig veränderte Aufgaben.“So gab es keine Veranstaltungen wie Eishockey oder Fußball mehr, bei denen die Polizei nach dem Rechten schauen musste – stattdessen galt es, die Corona-Verordnung zu überwachen. Das war nicht nur personell ein Kraftakt, sondern auch psychologisch eine Umstellung: „Sehr gewöhnungsbedürftig“ sei es laut Stürmer nämlich gewesen, auf einmal nicht mehr „unser klassisches Klientel“, sondern „ganz normale Bürger für normalerweise adäquates Verhalten“zu kontrollieren.
So sind die Beamten schon das ganze Jahr über und aktuell verstärkt dabei, Streifen zu fahren und beliebte Treffpunkte abzuklappern. Eine zentrale Corona-Koordinierungsgruppe ist rund um die Uhr erreichbar. Und das Führungs- und Lagezentrum schickt bei Bedarf Einsatzkräfte los, um Zusammenkünfte bereits im Ansatz aufzulösen. Ruhestörungen wurden im November 200 gemeldet – während des Sommers waren es fast 600. Über die Weihnachtsfeiertage rechnet Stürmer mit mehr häuslicher Gewalt.
Da man die 50 Kilometer Bodenseeufer in der warmen Jahreszeit mit Streifen nicht überwacht bekam, ließ Stürmer einmal gar den Zeppelin als Argusauge der Polizei über der Region kreisen. Eine Aktion, die bei vielen gar nicht gut ankam. Obschon der Polizeipräsident die emotionalen Vorbehalte versteht, ist er überzeugt, dass es „in der kritischen Situation vor Ostern“richtig gewesen sei, auf den Zeppelin statt auf Hubschrauber zu setzen. Setzten sich im Lockdown nämlich erst einmal ein paar Leute auf eine Bank am Ufer, würden kurz darauf Massen von Leuten dasselbe tun. Daher sei er generell darauf bedacht, Dominoeffekte zu verhindern. Im Übrigen betont Stürmer, dass der Datenschutzbeauftragte des Landes „die
Zeppelin-Aktion nach eingehender Prüfung nicht beanstandet hat“.
Was Straftaten angeht, sind diese im Frühjahr und Sommer 2020 in Ravensburg und Sigmaringen zurückgegangen: Da viele Menschen während der Pandemie zu Hause arbeiten, nahmen die Wohnungseinbrüche rapide ab, Diebstähle ebenfalls. Viele Betrugsfälle haben sich ins Internet verlagert, so Stürmer: „Kriminalität verschiebt sich nach den Tatgelegenheiten.“Auch Verkehrsunfälle gab es weniger, dafür nahmen die Fahrradunfälle zu. Mehr geworden sind auch Sexualdelikte und Kinderpornografie mit überregionalen Netzwerken, ebenso Tötungsdelikte und Gewalt gegenüber Polizisten. Letztere macht Stürmer vor allem im Bodenseekreis Sorge. Zumal sie häufig mit Hasskriminalität und Beschimpfungen unter der Gürtellinie einhergehe. Insbesondere der Streifendienst müsse gerade viel aushalten.
Trotzdem sind die Polizeischulen voll. Auch wenn derzeit viele Kollegen in den Ruhestand verabschiedet werden und die personelle Durststrecke im kommenden Jahr noch anhalten werde: Ab 2022 freut sich der Polizeipräsident auf Nachwuchskräfte. Woher das große Interesse am Polizeiberuf kommt? Er sei sinnvoll, interessant und vielfältig, mutmaßt Stürmer. Könne man doch ebenso Kriminaltechniker wie Ermittler oder Streifendienstler werden und habe dabei einen sicheren Beamtenstatus.
Hinzu kommt, dass sich seit der Sturkturreform vor Ort vieles zum
Besseren entwickelt hat. So ließen er und seine Kollegen nicht mehr so viel Zeit „auf der Strecke“und das regelmäßige Gegondel nach Konstanz sei endlich vorbei, erläutert Stürmer. „Das war ein Entschleunigungsprogramm auf Staatskosten“, sagt er rückblickend über all die Stunden, die man im Auto oder auf der Fähre verplempert hat. Inzwischen könne die Polizei wieder „viel effektiver und bürgernäher“arbeiten: Funkgeräte etwa werden ebenso in der Ravensburger Gartenstraße 97 upgedatet wie Strategie- oder Personalgespräche hier geführt werden. „Es ist günstig, wenn die Zentrale zentral liegt – wir sind jetzt ein Präsidium der kurzen Wege, und zwar von allen Seiten“, zieht Stürmer nach einem Jahr eine positive Bilanz.
Die kurzen Wege sind nicht zuletzt wichtig bei der Aufnahme schwerer Unfälle: Immer wieder hatte in der Vergangenheit für Kritik gesorgt, dass die in Sigmaringen, Kißlegg und Ravensburg sitzenden Kollegen der Verkehrsunfallaufnahme alle schweren Unfälle aufnehmen mussten – und entsprechend spät beispielsweise auf der B31 am Bodensee eintrafen. Diese Vorgabe hat Stürmer gekappt: Jetzt müssen die Leute von der Verkehrsunfallaufnahme nur ausrücken, wenn ein komplizierter, von der Spurensicherung her schwieriger Unfall vorliegt. Im Gegenzug wurde die Zuständigkeit der örtlichen Reviere erweitert: „Alles, was das Revier kann, soll es auch tun“, so Stürmer. Folge: Es werden Zeit und Wege gespart, die Unfallbeteiligten müssen nicht mehr so lange warten, und der Verkehr rollt wieder schneller.
Auch der Kriminaldauerdienst profitiert vom neuen Zuschnitt des Präsidiums: Vier Beamte schieben dort Tag und Nacht Dienst, falls irgendwo ein Mord oder Raub passiert. Vor der Reform saßen zwei davon in Singen, zwei in Ravensburg. Gab es etwa einen Fall in Wangen, dauerte es eine halbe Ewigkeit, bis die Kollegen aus Singen endlich dort eintrafen. Laut Stürmer sei es in der Regel sinnvoll, dass vier Kollegen anrücken – so kann sich bei einer Vergewaltigung beispielsweise eine Beamtin um das Opfer kümmern, ein weiterer Beamter nimmt die Spuren auf und die zwei restlichen Kriminalpolizisten knöpfen sich den Täter vor. Da die vier Beamten nun alle in Ravensburg stationiert sind, „haben wir eine höhere Schlagkraft“, so Stürmer.
Intern zahlen sich die kurzen Wege ebenfalls aus. Beispiel Rutenfest: Stürmer berichtet, er habe sich diesbezüglich sechsmal mit dem Ravensburger Oberbürgermeister Daniel Rapp und auch mit den Trommlergruppen getroffen – bekanntlich war es ein längerer Prozess, bis sämtliche Veranstaltungen abgesagt waren. „Das hätte ich von Konstanz aus so nicht machen können“, weiß der Polizeipräsident. Er ist auch froh, dass es nur ein paar hundert Meter ins Landratsamt sind, wo mit Landrat, Kreisbrandmeister, Oberschwabenklinik und Labor Dr. Gärtner regelmäßig die Corona-Lage diskutiert wird.
Und wie ist die Stimmung nach einem Jahr Polizeipräsidium Ravensburg? Stürmers Eindruck: „Die meisten sind froh, wieder eine engere Anbindung an die Region zu haben.“Die Zufriedenheit sei gestiegen. Darum solle auch erstmal Ruhe einkehren – strukturell will er keinesfalls schon wieder etwas verändern, etwa den Zuschnitt der Reviere. Zwar sei in der Tat nicht jede Zuständigkeit optimal – Boms etwa liegt sechs Kilometer von Bad Saulgau entfernt, wird aber von Weingarten aus bedient. Stürmer findet: Das müsse man in Kauf nehmen. Und: Sämtliche Einsätze würden vom Führungs- und Lagezentrum in Ravensburg aus koordiniert. Es sei also gewährleistet, dass, „wenn es darauf ankommt, schnell ein Fahrzeug da ist“.