Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Lindauer bewegen sich wieder mehr

Forschungs­projekt zeigt, wie sich Menschen im Lockdown an die Corona-Regeln halten

- Von Dirk Augustin

LINDAU - Im zweiten Lockdown bewegen sich die Menschen im Kreis Lindau deutlich mehr als beim ersten Mal im Frühjahr. Handydaten könnten erklären, warum die Infektions­zahlen seit Wochen kaum sinken.

Viele Lindauer fragen sich, warum die Zahl der Corona-Infektione­n im Kreis Lindau seit Anfang November nahezu unveränder­t um die Marke von 200 Neuinfekti­onen innerhalb von sieben Tagen (berechnet auf 100 000 Einwohner) liegt. Denn Gasthäuser sind schon lange geschlosse­n, einige Zeit galt sogar Maskenpfli­cht auf öffentlich­en Plätzen. Inzwischen sind zusätzlich in ganz Deutschlan­d Geschäfte geschlosse­n, es gelten nächtliche Ausgangssp­erre und auch tagsüber Kontaktbes­chränkunge­n, die aber nicht so streng sind wie im Frühjahr.

Tatsächlic­h zeigen Studien in aller Welt, dass solche Maßnahmen hilfreich sein können. Aber nicht für sich genommen, sondern nur, wenn die Menschen diese Maßnahmen als Teil eines Ganzen begreifen. Und dieses Ganze heißt, möglichst wenig andere Menschen zu treffen. Das gelingt am besten, wenn jeder daheim bleibt.

Ob sich die Menschen im Landkreis Lindau daran halten, lässt sich messen und überprüfen. Möglich macht das ein Projekt von Forschern der Humboldt-Universitä­t Berlin, des Robert-Koch-Instituts und des Unternehme­ns Teralytics. Die Wissenscha­ftler machen sich die Tatsache zunutze, dass man Daten der Mofilfunka­ntennen auswerten kann. Denn wenn ein Mobiltelef­on eine sogenannte Funkzelle verlässt und sich in einer anderen registrier­t, zählt dies als eine Bewegung.

Dabei spielt es keine Rolle, ob der Handybesit­zer zu Fuß unterwegs ist, mit dem Fahrrad, mit dem Auto oder einem anderen Verkehrsmi­ttel. Da die Forscher die Handydaten anonymisie­rt auswerten, wissen sie nicht einmal, ob es sich um Einwohner oder Gäste handelt. Sie zählen lediglich die Zahl der Bewegungen insgesamt. Die Auswertung­en dieser Daten sind für ganz Deutschlan­d im Internet für jedermann abrufbar. Daten gibt es für ganz Deutschlan­d und für alle deutschen Landkreise. Im Fall Lindau sind diese Daten also für den ganzen Kreis abrufbar, Unterschie­de zwischen Bayerische­m Bodensee und Westallgäu kann man dort nicht ablesen.

Wichtig: Es handelt sich um anonymisie­rte Daten. Die Forscher können also keine Rückschlüs­se auf das Verhalten einzelner Menschen ziehen. Grundlage sind

Daten der Mobilfunka­nbieter Telekom und Telefónica. Die

Studie beginnt am 11. März, als in Lindau bereits Schulen geschlosse­n, aber noch alle Geschäfte geöffnet waren, als es noch keine Ausgangsbe­schränkung­en gab und als noch kaum jemand in Heimarbeit war. Die Studie läuft seitdem unveränder­t. Man kann also gut erkennen, wie bewegungsl­os die Lindauer im Frühjahr waren, wie viel mehr Bewegung als in anderen Jahren es heuer im Sommer gab und dass es im Landkreis im zweiten Lockdown deutlich mehr Bewegung gibt als vor einem halben Jahr.

Zum Verständni­s der Zahlen ist es wichtig zu wissen, dass die Forscher für das Corona-Projekt die Daten des jeweiligen Tages mit Durchschni­ttszahlen des jeweiligen Wochentags des Vorjahresm­onats vergleiche­n. Das bedeutet konkret, dass die Zahlen des 27. Dezember 2020 im Vergleich stehen zu den Durchschni­ttswerten aller Dezember-Sonntage des vergangene­n Jahres. Es ist also kein direkter Vergleich der Sonntage direkt nach

Weihnachte­n. Auch für andere markante Tage wie dem 1. Mai, Allerheili­gen oder Heiligaben­d gilt, dass sie nicht mit dem gleichen Feiertag des Vorjahres verglichen werden, sondern mit dem Durchschni­tt der Freitage im Mai, mit dem Durchschni­tt der Sonntage im November oder mit dem Durchschni­tt der Donnerstag­e im Dezember.

Die Zahlen sagen also wenig aus über einzelne Tage. Sehr wohl lassen sich aber Tendenzen ablesen. Ein Vergleich der Zahlen von März bis Ende Mai zeigt, dass die Menschen im Kreis Lindau deutlich bewegungsä­rmer waren als die Menschen in den Nachbarlan­dkreisen. Umgekehrt ist in den neuen Zahlen jetzt ebenso deutlich zu erkennen, dass von Anfang Juli bis Ende September in Lindau viel mehr los war als im Vorjahr. Wer sich die Grafik genau anschaut und sich über einzelne Ausreißer nach unten wundert, der sei daran erinnert, dass am 14. Juni und 30. August so schwere Unwetter über Lindau niederging­en, dass die Feuerwehr viele Einsätze hatte. Am 2. August regnete es nicht ganz so stark, aber auch da lockte das Wetter niemanden nach draußen.

Anderersei­ts sind die Steigerung­en schon beeindruck­end, das gilt vor allem für Samstage. Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass es kein Stadtfest gab, kein Umsonst & Draußen, kein Komm und See und auch all die anderen Feste nicht, die in normalen Jahren für viel Bewegung sorgen, weil sie Lindauer und Gäste anlocken.

Beim Blick auf die Zahlen ab Ende Oktober fällt auf, dass sich die Menschen im Kreis Lindau zwar weniger bewegt haben als im Vorjahr. Das gilt durchgehen­d, seitdem das Landratsam­t mit verschiede­nen Maßnahmen auf steigende Infektions­zahlen reagiert hat. Diese Maßnahmen waren allerdings nicht so streng wie im Frühjahr. Und so fällt sehr deutlich auf, dass die Menschen im Landkreis keineswegs so eindeutig auf die Maßnahmen reagiert haben. Auch die wiederholt­en Appelle der Verantwort­lichen, dass die Menschen am besten daheim bleiben sollten, haben die Lindauer bei weitem nicht in dem Maße gefolgt wie im Frühjahr.

Unter der Woche liegt die Zahl der Bewegungen seit November kaum ein Zehntel unter der des Vorjahres. Lediglich an Wochenende sinken die Zahlen vergleichs­weise stärker. Wenn man aber bedenkt, dass im vergangene­n Jahr der Jahrmarkt und die Hafenweihn­acht vor allem an Samstagen und Sonntagen sehr viele Menschen in Lindau in Bewegung gebracht haben, sind die Unterschie­de wohl allein damit zu erklären, dass diese Großverans­taltungen ausgefalle­n sind.

Dass viele Schüler daheim lernen, Geschäfte geschlosse­n sind, Weihnachts­feiern, Adventskon­zerte und ähnliche Veranstalt­ungen ausgefalle­n sind, hat aber offensicht­lich nicht dazu geführt, dass sich die Menschen im Kreis Lindau weniger bewegt haben als vor einem Jahr.

So sind die Bewegungsd­aten zwar kein Beweis dafür, dass viele Menschen im Kreis Lindau entgegen aller Schutzmaßn­ahmen die eigene Bewegung kaum eingeschrä­nkt haben. Dabei haben sie natürliche­rweise, egal ob absichtlic­h oder nicht, andere Menschen getroffen. Das passt zur Beobachtun­g des Landratsam­ts, das seit Wochen vom zumeist diffusen Infektions­geschehen spricht. Das bedeutet nichts anderes, als dass niemand erklären kann, wo sich die Menschen angesteckt haben. Dass sie sich angesteckt haben, ist aber nicht zu leugnen.

Unter der Woche liegt die Zahl der Bewegungen seit November kaum ein Zehntel unter der des Vorjahres.

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