Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Johnsons schwierige­r Kampf

Schottland will zurück in die EU und gefährdet damit die Einheit Großbritan­niens

- Von Sebastian Borger

LONDON - Der Brexit ist vollzogen. Großbritan­nien ist nach dem Bruch mit der Europäisch­en Union zum neuen Jahr auch aus dem EU-Binnenmark­t und der Zollunion ausgetrete­n. Dass Boris Johnson in seiner Neujahrsan­sprache Großbritan­niens endgültige­n Abschied aus dem größten Binnenmark­t der Welt bejubeln würde, war abzusehen. Sein Land werde manches „anders und, falls nötig, besser machen als unsere Freunde in der EU“, teilte der Premiermin­ister am Freitag mit.

Auffällig häufig betonte der Konservati­ve die Zusammenge­hörigkeit des Vereinigte­n Königreich­s. Der Grund liegt auf der Hand: 2021 steht der Londoner Zentralreg­ierung ein heftiger Kampf mit den Befürworte­rn der schottisch­en Unabhängig­keit ins Haus. Schon verspricht die Edinburghe­r Ministerpr­äsidentin Nicola Sturgeon an die Adresse Europas gewandt, ihr Land „werde bald zurückkomm­en“– als eigenständ­ige Nation.

In ihrer eigenen Ansprache zum neuen Jahr gab sich die Regionalre­gierungsch­efin betont staatsfrau­lich, lobte den großen Einsatz von medizinisc­hem Personal und Freiwillig­en im Kampf gegen Sars-CoV-2 und appelliert­e an die Zuschauer: „Wir sollten zusammenbl­eiben.“Dass damit ausschließ­lich die Bewohner ihrer „stolzen Nation“gemeint waren, verdeutlic­hte die Chefin der Nationalpa­rtei SNP später auf Twitter. Ihr Land werde „gegen seinen Willen“aus der EU gerissen, schrieb Sturgeon und verglich Schottland mit dem internatio­nalen Einfluss des ähnlich großen Nachbarn Irland. Die grüne Insel gehört vom Neujahrsta­g für zwei Jahre dem UN-Sicherheit­srat an.

Die Schotten wählen im Mai ihr Regionalpa­rlament neu. Allen Umfragen zufolge kann sich die SNP auf einen klaren Wahlsieg freuen; möglich scheint die absolute Mehrheit, die Sturgeons Vorgänger Alex Salmond 2011 schon einmal erreicht hatte. Da auch die Grünen eine zweite Volksabsti­mmung über die Unabhängig­keit befürworte­n, gibt es kaum einen Zweifel daran, dass sich eine klare Mehrheit der Abgeordnet­en hinter dieser Forderung versammeln wird.

Das Wahlvolk ist Umfragen zufolge ohnehin mehrheitli­ch dafür. 2014 hatten sich die Schotten noch mit 55:45 Prozent für den Verbleib in der Union mit England entschiede­n. Das

Brexit-Votum des viel größeren Nachbarn im Süden – Schottland selbst wollte mit 62:38 Prozent in der EU bleiben – brachte dann ein jahrelange­s Umfragepat­t mit sich. 2020 aber neigte sich die Waagschale dauerhaft in Richtung Eigenständ­igkeit. Inzwischen sprechen sich kontinuier­lich 55 Prozent der Schotten, gelegentli­ch sogar 58 Prozent, für die staatliche Unabhängig­keit aus.

Den mutmaßlich wichtigste­n Grund für den Sinneswand­el der entscheide­nden Wechselwäh­ler benannte Kirsty Blackman, SNP-Sprecherin für Verfassung­sfragen, auf der Brexit-Sondersitz­ung des Unterhause­s am Mittwoch. Sie wolle sich heute doch mal ausdrückli­ch beim Premiermin­ister bedanken, höhnte Blackman. „Er hat mehr für die schottisch­e Unabhängig­keit getan als jeder andere Unionspoli­tiker.“Tatsächlic­h gilt Boris Johnson im britischen Norden als unzuverläs­sig, ungeeignet und uninteress­iert an schottisch­en Belangen, wie der bekannte Wahlforsch­er Professor John Curtice von der Glasgower Strathclyd­e-Universitä­t konstatier­t.

Insbesonde­re der Londoner Schlingerk­urs gegen Covid-19 hat bei den Schotten einen schlechten Eindruck hinterlass­en. Zwar sind die eigenen Infektions- und Todesraten nur geringfügi­g besser; Sturgeon aber hat es mit offener Kommunikat­ion geschafft, als vergleichw­eise kompetente­r dazustehen. Wenn sich dies ändere, könnte sich auch die Einstellun­g zur Unabhängig­keit wieder ändern, glaubt Curtice. Genauso gelte dies für den Fall, dass in London ein anderer Konservati­ver die Macht übernimmt.

So abwegig dies nach Johnsons Brexit-Triumph erscheinen mag – entspreche­nde Gerüchte geistern seit Monaten durchs Regierungs­viertel Whitehall. Dem 56-jährigen Vater des acht Monate alten Wilfred mache das mühsame Regieren keinen großen Spaß, zudem habe seine schwere Covid-Erkrankung mit mehrtägige­m Aufenthalt auf der Intensivst­ation ihre Spuren hinterlass­en, hieß es im Herbst. Angeblich gut informiert­e Kreise klagten gegenüber der „Times“sogar, der Premiermin­ister sei schlecht bezahlt.

Ob die Verwirklic­hung des BrexitTrau­ms und die Neuorganis­ation der Downing Street nach dem Weggang des giftspritz­enden Chefberate­rs Dominic Cummings neuen Schwung bringt? Eifrig schwärmte Johnson in seiner Ansprache von Großbritan­nien als „Wissenscha­fts-Supermacht“, freute sich über die mittlerwei­le mehr als eine Million CovidGeimp­ften, verwies auf die diesjährig­e G7-Leitung seines Landes und die Ende 2021 anstehende Klimakonfe­renz in Glasgow. Auf der internatio­nalen Bühne könne sein Land Großes leisten, beteuerte der Premiermin­ister. Der schwierigs­te Kampf aber dürfte Johnson im Ringen um die Einheit des Landes bevorstehe­n.

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FOTOS: AFP/DPA Schottland­s Regierungs­chefin Nicola Sturgeon will für die Rückkehr ihres Landes in die EU kämpfen. Der britische Premier Boris Johnson muss das Vereinigte Königreich zusammenha­lten.
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FOTO: KEMAL SOFTIC/DPA Bosnische Soldaten errichten ein Zelt im Camp Lipa außerhalb von Bihac.

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