Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
In den USA drohen Assange 175 Jahre Haft
Londoner Gericht entscheidet über die Auslieferung des Wikileaks-Gründers
LONDON - An diesem Montag fällt in London das Urteil im Auslieferungsverfahren gegen Julian Assange. Die Anhörung findet im Gebäude des Strafgerichts Old Bailey statt. Kaum vorstellbar, dass der WikileaksGründer deshalb aber bald das Gefängnis verlassen darf. Denn schon vorab bestehen wenige Zweifel daran, dass die unterlegene Partei weitere Instanzen anrufen wird.
Die Enthüllungsplattform Wikileaks hatte 2010 und 2011, teilweise in Zusammenarbeit mit renommierten Medien wie der „New York Times“, dem britischen „Guardian“und dem „Spiegel“, US-Geheimdokumente veröffentlicht. Dadurch kamen Kriegsverbrechen amerikanischer Streitkräfte in Afghanistan und dem Irak ans Licht. Assange soll die später wegen Geheimnisverrats verurteilte Soldatin Chelsea Manning zum Kopieren der 250 000 diplomatischen Depeschen angestiftet haben, Wikileaks bestreitet dies. Dem 49-jährigen Assange drohen in den USA wegen Computer-Hackings und Spionage bis zu 175 Jahre Freiheitsstrafe; realistischer, so die USRegierungsvertreter, sei eine Zeitspanne von vier bis sieben Jahren.
Während britische Medien kaum über den prominenten Häftling im Gefängnis von Belmarsh im Osten Londons berichten, genießt der Fall höchste internationale Aufmerksamkeit. Immer wieder haben sich Parlamentarier aus Assanges Heimat Australien, aus Großbritannien und befreundeten Staaten für den 49-Jährigen eingesetzt. Im deutschen Bundestag haben sich fünf Abgeordnete aus Fraktionen von Die Linke bis CDU zur „Free Julian Assange“-Gruppe zusammengeschlossen. Bärbel Kofler, Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik, argumentierte vergangene Woche, Assanges körperliche und psychische Gesundheit müsse bei der Entscheidung „unbedingt Berücksichtigung“finden. Großbritannien sei schließlich an die Europäische Menschenrechtskonvention gebunden, teilte die SPD- Politikerin mit.
Weil sich der Wikileaks-Gründer 2012 einer Auslieferung nach Schweden durch Asyl in der Botschaft Ecuadors entzog, hält das Gericht eine Fluchtgefahr für gegeben. Deshalb
sitzt Assange nach Verbüßung einer Strafe wegen Verstoßes gegen Gerichtsauflagen seit gut einem Jahr in Untersuchungshaft. Diese Inhaftierung stelle einen Angriff auf Journalismus weltweit dar, betont Wikileaks-Chefredakteur Kristinn Hrafnsson. „Manchmal hatte ich den Eindruck: Hier steht nicht Julian Assange vor Gericht, sondern unsere Zivilisation“, sagte Hrafnsson.
Im gut vierwöchigen Verfahren musste der Australier, stets korrekt in dunklem Anzug und Krawatte gekleidet, hinter Panzerglas auf der Anklagebank Platz nehmen statt bei seinen Anwälten zu sitzen. Dies ist normalerweise nur bei Strafprozessen gegen Terroristen und Gewalttäter üblich. Dadurch sei es ihr beinahe unmöglich gewesen, mit ihrem Mandanten vertraulich zu sprechen, berichtete Anwältin Jennifer Robinson.
Mit der Hilfe von mehr als 40 Experten
versuchte das Verteidigerteam um Robinson den Beweis zu führen, es handele sich um „ein politisches Verfahren“. Dementsprechend äußerten sich JournalismusVeteranen ebenso wie der legendäre Whistleblower Daniel Ellsberg („Pentagon-Papers“). Hingegen konzentrierten sich britische Regierungsvertreter vor allem darauf, die Expertise der medizinischen Gutachter in Zweifel zu ziehen. Assange leidet am Asperger-Syndrom, einer Erkrankung des autistischen Spektrums, sowie an Depressionen.
In seiner Einzelzelle im Gefängnis Belmarsh fanden Bedienstete eine halbe Rasierklinge; seine Lebensgefährtin und Mutter zweier Söhne, Stella Moris, hat öffentlich auf Assanges Suizidgedanken hingewiesen. 2012 hatte die damalige Innenministerin Theresa May die Auslieferung eines autistischen und depressiven Computerhackers an die USA unterbunden mit der Begründung, diese würde das Leben des Mannes gefährden.
Derartige Milde gegenüber Assange ist von der derzeitigen Amtsinhaberin Priti Patel nicht zu erwarten; sie gilt als Aushängeschild des äußerst rechten Law&Order-Flügels der konservativen Regierungspartei. Die Richterin Vanessa Baraitser machte zudem durch ihre Verfahrensführung, etwa den Ausschluss renommierter Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch, ihre Abneigung gegen den WikileaksGründer deutlich. Alles andere als ihre Zustimmung zur Auslieferung wäre eine Sensation.
Anwältin Robinson hat für diesen Fall Einspruch beim britischen Supreme Court und dem Europäischen Menschengerichtshof angekündigt.