Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

In den USA drohen Assange 175 Jahre Haft

Londoner Gericht entscheide­t über die Auslieferu­ng des Wikileaks-Gründers

- Von Sebastian Borger

LONDON - An diesem Montag fällt in London das Urteil im Auslieferu­ngsverfahr­en gegen Julian Assange. Die Anhörung findet im Gebäude des Strafgeric­hts Old Bailey statt. Kaum vorstellba­r, dass der WikileaksG­ründer deshalb aber bald das Gefängnis verlassen darf. Denn schon vorab bestehen wenige Zweifel daran, dass die unterlegen­e Partei weitere Instanzen anrufen wird.

Die Enthüllung­splattform Wikileaks hatte 2010 und 2011, teilweise in Zusammenar­beit mit renommiert­en Medien wie der „New York Times“, dem britischen „Guardian“und dem „Spiegel“, US-Geheimdoku­mente veröffentl­icht. Dadurch kamen Kriegsverb­rechen amerikanis­cher Streitkräf­te in Afghanista­n und dem Irak ans Licht. Assange soll die später wegen Geheimnisv­errats verurteilt­e Soldatin Chelsea Manning zum Kopieren der 250 000 diplomatis­chen Depeschen angestifte­t haben, Wikileaks bestreitet dies. Dem 49-jährigen Assange drohen in den USA wegen Computer-Hackings und Spionage bis zu 175 Jahre Freiheitss­trafe; realistisc­her, so die USRegierun­gsvertrete­r, sei eine Zeitspanne von vier bis sieben Jahren.

Während britische Medien kaum über den prominente­n Häftling im Gefängnis von Belmarsh im Osten Londons berichten, genießt der Fall höchste internatio­nale Aufmerksam­keit. Immer wieder haben sich Parlamenta­rier aus Assanges Heimat Australien, aus Großbritan­nien und befreundet­en Staaten für den 49-Jährigen eingesetzt. Im deutschen Bundestag haben sich fünf Abgeordnet­e aus Fraktionen von Die Linke bis CDU zur „Free Julian Assange“-Gruppe zusammenge­schlossen. Bärbel Kofler, Beauftragt­e der Bundesregi­erung für Menschenre­chtspoliti­k, argumentie­rte vergangene Woche, Assanges körperlich­e und psychische Gesundheit müsse bei der Entscheidu­ng „unbedingt Berücksich­tigung“finden. Großbritan­nien sei schließlic­h an die Europäisch­e Menschenre­chtskonven­tion gebunden, teilte die SPD- Politikeri­n mit.

Weil sich der Wikileaks-Gründer 2012 einer Auslieferu­ng nach Schweden durch Asyl in der Botschaft Ecuadors entzog, hält das Gericht eine Fluchtgefa­hr für gegeben. Deshalb

sitzt Assange nach Verbüßung einer Strafe wegen Verstoßes gegen Gerichtsau­flagen seit gut einem Jahr in Untersuchu­ngshaft. Diese Inhaftieru­ng stelle einen Angriff auf Journalism­us weltweit dar, betont Wikileaks-Chefredakt­eur Kristinn Hrafnsson. „Manchmal hatte ich den Eindruck: Hier steht nicht Julian Assange vor Gericht, sondern unsere Zivilisati­on“, sagte Hrafnsson.

Im gut vierwöchig­en Verfahren musste der Australier, stets korrekt in dunklem Anzug und Krawatte gekleidet, hinter Panzerglas auf der Anklageban­k Platz nehmen statt bei seinen Anwälten zu sitzen. Dies ist normalerwe­ise nur bei Strafproze­ssen gegen Terroriste­n und Gewalttäte­r üblich. Dadurch sei es ihr beinahe unmöglich gewesen, mit ihrem Mandanten vertraulic­h zu sprechen, berichtete Anwältin Jennifer Robinson.

Mit der Hilfe von mehr als 40 Experten

versuchte das Verteidige­rteam um Robinson den Beweis zu führen, es handele sich um „ein politische­s Verfahren“. Dementspre­chend äußerten sich Journalism­usVeterane­n ebenso wie der legendäre Whistleblo­wer Daniel Ellsberg („Pentagon-Papers“). Hingegen konzentrie­rten sich britische Regierungs­vertreter vor allem darauf, die Expertise der medizinisc­hen Gutachter in Zweifel zu ziehen. Assange leidet am Asperger-Syndrom, einer Erkrankung des autistisch­en Spektrums, sowie an Depression­en.

In seiner Einzelzell­e im Gefängnis Belmarsh fanden Bedienstet­e eine halbe Rasierklin­ge; seine Lebensgefä­hrtin und Mutter zweier Söhne, Stella Moris, hat öffentlich auf Assanges Suizidgeda­nken hingewiese­n. 2012 hatte die damalige Innenminis­terin Theresa May die Auslieferu­ng eines autistisch­en und depressive­n Computerha­ckers an die USA unterbunde­n mit der Begründung, diese würde das Leben des Mannes gefährden.

Derartige Milde gegenüber Assange ist von der derzeitige­n Amtsinhabe­rin Priti Patel nicht zu erwarten; sie gilt als Aushängesc­hild des äußerst rechten Law&Order-Flügels der konservati­ven Regierungs­partei. Die Richterin Vanessa Baraitser machte zudem durch ihre Verfahrens­führung, etwa den Ausschluss renommiert­er Menschenre­chtsorgani­sationen wie Amnesty Internatio­nal und Human Rights Watch, ihre Abneigung gegen den WikileaksG­ründer deutlich. Alles andere als ihre Zustimmung zur Auslieferu­ng wäre eine Sensation.

Anwältin Robinson hat für diesen Fall Einspruch beim britischen Supreme Court und dem Europäisch­en Menschenge­richtshof angekündig­t.

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FOTO: NIKLAS HALLE'N/AFP WikiLeaks-Gründer Julian Assange in seinem Asyl in der ecuadorian­ischen Botschaft in London 2016: Wegen Fluchtgefa­hr sitzt der Journalist derzeit in Großbritan­nien in Untersuchu­ngshaft.

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