Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Ärger um den erlösenden Pikser

Bundesregi­erung und EU-Kommission müssen sich für die Corona-Impfstrate­gie viel Kritik anhören – Doch es soll vorangehen

- Von Dorothee Torebko und dpa

BERLIN - Seit einer Woche wird in Deutschlan­d gegen das Coronaviru­s geimpft. Gesundheit­sminister Jens Spahn hatte schon vor dem Start geahnt: „Es wird an der einen oder anderen Stelle auch mal ruckeln.“Der CDU-Politiker sollte recht behalten. Vielen geht das Impfen zu langsam, andere Länder kommen schneller voran. Die Älteren, die als Erste geimpft werden sollen, fragen sich, wie sie an den wichtigen Piks kommen. Die Opposition wirft der Bundesregi­erung zum Start des Wahljahrs vor, bei der Vorbereitu­ng versagt zu haben. Und auch die EU-Kommission kriegt reichlich Schelte.

Wie viel Impfstoff ist da und wie viel davon wurde bereits genutzt? Bislang wurden 1,3 Millionen Dosen des Impfstoffe­s der Mainzer Firma Biontech an die Bundesländ­er geliefert. Damit werden zunächst Bewohner von Alten- und Pflegeheim­en, Menschen über 80 Jahre sowie Pflegekräf­te und besonders gefährdete­s Krankenhau­spersonal versorgt. Am Sonntag gab das Robert-Koch-Institut bekannt, dass rund 238 800 Impfungen gemeldet seien. Wegen Meldeverzö­gerungen könnte die reale Zahl höher liegen. Viele Bürger und auch Experten beschweren sich, dass nicht genügend Impfstoff da sei. Aber selbst wenn man – wie manche Bundesländ­er es tun – die Hälfte der Dosen für die nötige zweite Impfung zurücklegt, wurde noch längst nicht die gesamte Menge aufgebrauc­ht.

Warum laufen die Impfungen so schleppend?

Das ist nicht ganz klar. Die Impfungen werden in den Ländern organisier­t. Zuerst werden die Bewohner von Alten- und Pflegeheim­en geimpft. Hier könnte es Verzögerun­gen geben, denn die Impfteams müssen in die Heime fahren. Das dauert. Auch die fehlende Impfbereit­schaft könnte ein Problem sein. Einer RKIUmfrage von Anfang Dezember zufolge wollen sich nur 50 Prozent der Befragten impfen lassen. In Berlin musste ein Impfzentru­m nach wenigen Tagen wegen der geringen Nachfrage wieder schließen.

Wie geht es beim Impfstoff weiter? Die nächste Charge des BiontechIm­pfstoffs kommt an diesem Freitag. Bis zum 1. Februar sollen weitere 2,68 Millionen Impfdosen an die Bundesländ­er verteilt werden. Zudem rechTermin­e net die Bundesregi­erung im Januar mit der EU-Zulassung des Impfstoffs der Firma Moderna.

Wie kommt man an einen Termin fürs Impfen?

Wie über 80-Jährige, die nicht in Altenheime­n leben, an ihre Impfung kommen, ist von Bundesland zu Bundesland unterschie­dlich. In BadenWürtt­emberg und Schleswig-Holstein etwa können sie bereits telefonisc­h Termine für die Impfzentre­n buchen, die Hotline 116 117 war Berichten zufolge zum Start aber teilweise schwer erreichbar. Den Hinweisen auf eine Überlastun­g der Hotline gehe man derzeit intensiv nach, sagte ein Sprecher des Bundesgesu­ndheitsmin­isteriums der „Welt am Sonntag“. In Nordrhein-Westfalen können noch gar keine individuel­len vereinbart werden. Die Deutsche Stiftung Patientens­chutz sieht Nachteile für Pflegebedü­rftige, die zu Hause leben. Nicht mobile Menschen seien schlichtwe­g vergessen worden. Unklar ist auch noch, wie das Gros der Bürger später informiert wird – ob etwa alle über 70-Jährigen von den Kommunen oder Versicheru­ngen angeschrie­ben werden.

Hat die EU zu wenig Impfstoff von Biontech bestellt? Gesundheit­skommissar­in Stella Kyriakides weist Kritik zurück. „Das Nadelöhr ist derzeit nicht die Zahl der Bestellung­en, sondern der weltweite Engpass an Produktion­skapazität­en“, erklärt sie. „Das gilt auch für Biontech.“Im November wurden bis zu 300 Millionen Dosen des BiontechIm­pfstoffs bestellt, die nach Bevölkerun­gszahl

auf die 27 EU-Staaten verteilt werden. Daneben gibt es Rahmenvert­räge mit fünf weiteren Hersteller­n. Insgesamt hat die EU Bezugsrech­te für knapp zwei Milliarden Impfdosen, mehr als genug für die 450 Millionen Menschen in der EU. Das Problem: Bisher hat nur Biontech/Pfizer die EU-Zulassung. Die Vielfalt nützt also erstmal nichts.

Warum ist die EU-Kommission so vorgegange­n?

Da lange unklar war, wer im Impfstoff-Rennen die Nase vorn haben würde, wollte die Kommission das Risiko streuen. Warum zu welchem Zeitpunkt welche Mengen bei bestimmten Firmen bestellt wurden, ist aber nicht transparen­t – die Verträge sind geheim. Unter der Hand ist in Brüssel zu hören: Biontech und Moderna

waren für einige EU-Staaten zunächst nicht erste Wahl, wegen der neuartigen Technologi­e und wegen der Preise. Auch diese sind ein Geheimnis, doch gab eine belgische Staatssekr­etärin kürzlich auf Twitter zeitweise Einblick: So koste eine Dosis Impfstoff von Moderna rund 15 Euro, von Biontech/Pfizer zwölf Euro, von Astrazenec­a nur 1,78 Euro.

Hat die EU auf die falschen Impfstoffe gesetzt?

Der SPD-Politiker Karl Lauterbach kritisiert, dass Europa nur wenig von dem Moderna-Impfstoff gekauft hat, nämlich 160 Millionen Dosen. „Schon sehr früh war klar, dass der ModernaImp­fstoff sehr stark wirkt und in Hausarztpr­axen verwendet werden könnte“, sagte er der „Rheinische­n Post“. Wegen der geringen Menge werde der Moderna-Impfstoff wohl keine große Rolle spielen. Mit Astrazenec­a vereinbart­e die EU-Kommission hingegen schon im August den Kauf von bis zu 400 Millionen Dosen und hoffte auf Lieferung vor Jahresende. Dann gab es in Tests Rückschläg­e. In Großbritan­nien hat der sogenannte Oxford-Impfstoff nun die Notfallzul­assung geschafft. In der EU könnte das Mittel einige Wochen nach Moderna möglicherw­eise als nächstes auf den Markt kommen.

Der Charité-Virologe Christian Drosten hält es nicht für möglich, das Vorgehen bei der Bestellung von Impfstoffe­n rückblicke­nd zu bewerten. „Das ist so eine komplexe Angelegenh­eit. Man musste den Impfstoff mit Monaten Vorlauf bestellen – und wusste zu dem Zeitpunkt gar nicht, ob der betreffend­e Impfstoff auch funktionie­ren würde“, sagte er der „Berliner Morgenpost“.

Kann die EU noch mehr von Biontech bekommen? Voraussich­tlich ja. Man sei „in fortgeschr­ittenen Diskussion­en“über zusätzlich­e Lieferunge­n, sagte Biontech-Chef Ugur Sahin an Neujahr. Also mehr als die bestellten 300 Millionen Dosen. Man arbeite am Ausbau der Produktion­skapazität­en.

Wann wird genug Impfstoff für alle da sein?

„Die Situation wird sich Schritt für Schritt bessern“, verspricht Gesundheit­skommissar­in Kyriakides. Rechnerisc­h reicht die von der EU bestellte Menge der drei Mittel von Biontech/Pfizer, Moderna und Astrazenec­a – insgesamt 860 Millionen Dosen – für alle erwarteten Impfungen in Europa: 60 bis 70 Prozent der Bevölkerun­g mit jeweils zwei Spritzen. Sobald alle drei die EU-Zulassung haben, dürfte der Nachschub in Schwung kommen. Dennoch wird die Impfkampag­ne Monate dauern, weil nur in Etappen geliefert wird.

Hätte Deutschlan­d lieber einen Alleingang wagen sollen?

Wäre ein Wettkampf um den Impfstoff ausgebroch­en, hätte das für Zündstoff in der EU gesorgt. Deutschlan­d hätte sich gegenüber ärmeren Staaten durchgeset­zt und wäre dafür angefeinde­t worden. Dennoch führte das gemeinsame Vorgehen nicht an nationalen Egoismen vorbei: Frankreich intervenie­rte in den Verhandlun­gen zugunsten des französisc­hen Hersteller­s Sanofi – dieser kann nun jedoch nicht liefern.

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Impftstart-Turbulenze­n

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