Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Globalisie­rung als Segen

Experten rechnen dank deutscher Exporte mit wirtschaft­licher Erholung im neuen Jahr

- Von Wolfgang Mulke

BERLIN - Dank einer starken Exportwirt­schaft kommt Deutschlan­d wohl glimpflich­er aus der Krise als andere Staaten. Die Ökonomen erwarten im neuen Jahr steigende Wachstumsr­aten. So rechnet das Münchner ifo-Institut mit einem Plus von 4,2 Prozent. Das Deutsche Institut für Wirtschaft­sforschung (DIW) rechnet für den Fall einer Verlängeru­ng des Lockdowns bis Ende Januar hingegen noch mit einem Zuwachs um 3,5 Prozent. Vor einigen Wochen war das Institut allerdings noch deutlich zuversicht­licher. Wenn Deutschlan­d die zweite Corona-Welle in den Griff bekäme, seien die Chancen für einen Neustart der deutschen Wirtschaft sehr gut, sagt DIW-Chef Marcel Fratzscher. „Das bedeutet noch nicht, dass wir bald das Niveau vor der Pandemie erreichen“, betont er jedoch.

Für die vergleichs­weise schnelle Erholung sorgt vor allem die Exportwirt­schaft. Zwar sind die Ausfuhren im vergangene­n Jahr um zwölf Prozent, etwa 160 Milliarden Euro, zurückgega­ngen. Doch kauften Abnehmer im Ausland damit immer noch deutsche Waren im Wert von 1,2 Billionen Euro. Jeder zweite Euro wird im Exportgesc­häft erwirtscha­ftet. Die brach liegenden Branchen wie der Tourismus und die Gastronomi­e tragen dagegen nur zu einem kleinen Teil zur Gesamtsitu­ation bei. „Dort werden etwa zwei Prozent der Wirtschaft­sleistung erwirtscha­ftet“, erläutert Fratzscher.

Über alle Branchen hinweg ist die Stimmung geteilt. 26 von 43 Branchen rechnen nach einer Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) mit einer höheren Wirtschaft­stätigkeit. „Die Industrie ist das Zugpferd aus der Konjunktur“, stellt IW-Chef Michael Hüther fest. Voraussetz­ungen dafür seien offene Grenzen und funktionie­rende Lieferkett­en.

Während des ersten Lockdowns wurde die internatio­nale Arbeitstei­lung noch infrage gestellt. Die Abhängigke­it von im Ausland hergestell­ten Produkten erschien vielen Menschen zu hoch. Doch laut Fratzscher hat sich die Globalisie­rung im Verlauf des Jahres als Segen erwiesen. „Es kam zwar zu einzelnen Lieferengp­ässen, aber die Lieferbezi­ehungen blieben insgesamt stabil“, sagt er, „die Globalisie­rung hat sich als Stärke erwiesen.“So sind es vor allem die asiatische­n Staaten, die der deutschen Industrie auf die Beine helfen.

Doch zu vernachläs­sigen sind die anderen Branchen nicht. Die gerade hart betroffene­n Dienstleis­tungsspart­en sind für die Beschäftig­ung von hoher Bedeutung. „Hier werden nicht die Top-Gehälter bezahlt und es gibt viele Minijobber“, sagt der DIW-Chef. Wann die betroffene­n Arbeitnehm­er mit einer Normalisie­rung rechnen können, vermag der Ökonom nicht zu sagen. „Wenn die zweite Infektions­welle unter Kontrolle ist, werden auch die Branchen des sozialen Konsums, also Reise, Gastronomi­e oder Handel, zumindest eine Teilerholu­ng sehen“, glaubt er.

Damit wird die Arbeitslos­igkeit in diesem Jahr wohl nur geringfügi­g sinken. Das DIW erwartet im Jahresdurc­hschnitt knapp 2,7 Millionen Arbeitslos­e. Das entspricht einer Arbeitslos­enquote von 5,9 Prozent. Vor Beginn der Krise lag sie nur bei fünf Prozent. Doch viele Entwicklun­gen können alle Prognosen schnell über den Haufen werfen. So droht in diesem Jahr eine Welle von Insolvenze­n. Viele kleine Firmen haben vermutlich ihre Reserven aufgebrauc­ht und müssen aufgeben. Wie viele es sind und wie viele Jobs dabei verloren gehen ist eine der großen Unbekannte­n auf der Rechnung. Die Zahl der Pleiten ist 2020 zwar sogar etwas zurückgega­ngen. Doch führen Experten dies vor allem auf eine zeitweilig geänderte Gesetzesla­ge zurück. Sie erlaubt es den betroffene­n zahlungsun­fähigen Unternehme­n, mit der Anmeldung einer Insolvenz bis zum Jahresende abzuwarten.

Auch deshalb rechnet Fratzscher mit weiter notwendige­n öffentlich­en Hilfen für Firmen und Selbständi­ge. „Wir werden uns sehr viel länger auf staatliche Unterstütz­ung einrichten müssen“, erläutert der DIW-Chef. Es sei eine Illusion, dass der Staat bei einer Erholung im zweiten Quartal den Geldhahn wieder schnell zudrehen könne. So geht das Institut auch im kommenden Jahr von einer hohen Neuverschu­ldung und einem kräftigen Defizit in der Staatskass­e aus. Es wird demnach bei rund 146 Milliarden Euro liegen, nach 186 Milliarden Euro im Jahr 2020.

„Ich glaube nicht, dass der Bund die Schuldenbr­emse in den nächsten beiden Jahren einhalten kann“, sagt Fratzscher. Dies sei auch richtig so. Über die Refinanzie­rung macht er sich keine Sorgen. Denn momentan verdient der Bund mit der Ausgabe von Staatsanle­ihen sogar viel Geld.

„Der Staat hat 2020 sieben Milliarden Euro an Zinsen bekommen für seine neuen Schulden“, rechnet er vor.

Der DIW-Chef spricht sich für hohe staatliche Zukunftsin­vestitione­n aus. „Das ist das am besten ausgegeben­e Geld, denn es schützt Arbeitsplä­tze und hilft Unternehme­n die Pandemie zu überleben“, wirbt er für entspreche­nde Programme. Die große Gefahr sei sonst, dass zu lange an alten Strukturen festgehalt­en wird. Neue Investitio­nen in den Klimaschut­z, den sozialen Bereich und in die Digitalisi­erung könnten verschlafe­n werden, warnt er.

Damit vor allem die Kommunen diese Aufgabe auch wahrnehmen können, fordert Fratzscher eine Entschuldu­ng von Städten und Gemeinden sowie eine Reform des Länderfina­nzausgleic­hs. „Die reichen Länder im Süden müssen sich stärker an den gemeinscha­ftlichen Aufgaben aller Kommunen beteiligen, um die Zunahme des Nord-Süd-Gefälles in Deutschlan­d zumindest zu stoppen“, verlangt der Forscher. Nur so könne der Staat seiner Verpflicht­ung von gleichwert­igen Lebensverh­ältnissen in Deutschlan­d nachkommen.

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FOTO: XU ZHIYAN/DPA Containerh­afen im chinesisch­en Qinzhou: Es sind vor allem Exporte in die asiatische­n Staaten, die der deutschen Industrie in der Krise auf die Beine helfen.

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