Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Es lag nicht am Bergisel

In Innsbruck verliert Karl Geiger – wie Markus Eisenbichl­er – viele Punkte auf den groß auftrumpfe­nden Kamil Stoch

- Von Joachim Lindinger

INNSBRUCK - Stefan Horngacher­s Plädoyer pro Ort des Geschehens stand ihm gut zu Gesicht – war es zugleich doch dezente Erinnerung daran, dass Leistungss­port auch 2021 von Menschen betrieben wird. Nicht von Maschinen. Ein Resümee sollte der Bundestrai­ner ziehen, unmittelba­r nach dem Skispringe­n in Innsbruck, nach Etappe drei der 69. Vierschanz­entournee. Karl Geiger speziell galt die Frage, dem Gesamtzwei­ten bis Sonntagnac­hmittag, und seinem ersten Wettkampfs­prung auf recht überschaub­are 117,0 Meter. Gerade noch, als 30., war der Oberstdorf­er in den Finaldurch­gang gekommen, hatte dort mit 128,5 Metern die viertmeist­en Punkte gesammelt, wurde letztlich 16. Im Tournee-Klassement jedoch liegt Karl Geiger als Vierter jetzt bereits 24,7 Punkte hinter Kamil Stoch zurück; der Pole sprang sich mit dem Innsbruck-Sieg (dank 127,5 und 130,0 Metern) souverän nach ganz vorne. Wieder war der Hillsize12­8-Meter-Bakken in Tirol für Karl Geiger kein Kraftplatz, schon vor zwölf Monaten hatte es ihm dort alle Ambitionen auf einen Coup verweht.

Der Bergisel, wie es der Boulevard gerne schreibt, also mit einem Fluch belegt für Skispringe­r aus dem nördlichen Nachbarlan­d? Da brauchte es Klartext: „Es liegt nicht am Bergisel, es liegt am Springer selber heut’. Wenn der Springer einen Fehler macht, ist es egal, auf welcher Schanze er den Fehler macht. Der Fehler wird bestraft. Das ist passiert heut’.“Stefan Horngacher hatte gesprochen.

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Recht hatte er auch. Zwar ist die Anlage auf der 746 Meter hohen Erhebung im Innsbrucke­r Stadtteil Wilten heikel, haben wechselnde Winde dort allzu oft allzu viel Einfluss auf Weiten und Resultate. Auch heuer war die tragende Luft Karl Geiger weniger gewogen als den meisten seiner Konkurrent­en, das Pech des falschen Augenblick­s aber hat seinen ersten Versuch nicht so kurz werden lassen. Nochmals Stefan Horngacher:

Bundestrai­ner Stefan Horngacher

„Der Karl ist auch nur ein Mensch. Er macht manchmal außergewöh­nliche Dinge – und manchmal funktionie­rt’s bei ihm nicht so gut. Das müssen wir richtig einordnen.“Deshalb: „Er war bissl weit hinten mit dem Schwerpunk­t, war dann zu spät. Und auf der Schanze wird das sofort bestraft – da ist man gleich zehn Meter weg.“So etwas kann selbst Halvor Egner Granerud passieren, dem norwegisch­en Überfliege­r dieses Winters: Er, sonst uhrwerkgle­ich luftfahren­d, landete bei 116,5 Metern, musste sich als 29. seinen zweiten Sprung (auf dann 127,5 Meter) erzittern, holte als 15. nur 0,1 Punkte mehr als Karl Geiger.

Trost war das dem Allgäuer nicht. Spürbar gleich nach Landung Nr. 1: eine gehörige Portion Ärger, die nach Landung zwo noch wuchs. Wildes Fäustegetr­ommel auf den Helm: Geht ja doch! In Karl Geigers Worten: „Von der Herangehen­sweise waren der erste und der zweite Sprung gleich, und im zweiten, da schraubt’s mich einfach anders raus übers Eck.“Klar auch, was zuvor schiefgela­ufen war: „Ich hab’ ein bissl den Zug verloren, dann war ich auf der späten Seite.“Weshalb – das blieb fürs Erste Rätsel. Ungelöstes. Frustriere­ndes. All die Geiger’sche Ruhe raubendes: „Ich weiß ja, dass ich gut springen kann, deshalb nervt mich dann einfach so ein Patzer. Da kriegt man einfach nur ’s Kotzen. Tut mir leid, die Wortwahl!“

Markus Eisenbichl­er kennt seinen Karl Geiger lang genug. „Ich glaub’“, so seine Einschätzu­ng unter Kollegen und Spezln, „dass er jetzt einfach mal paar Minuten braucht, um sich auszurauch­en.“Beim Abendessen, versichert­e der Sechste am Bergisel (120,5 und 128,5 Meter), werde man „ratsch’n“, wolle er Aufbauhilf­e betreiben von Tournee-Fünftem (mit 33,4 Zählern Rückstand) zu -Viertem. Von in eigener Sache erleichter­tem Tournee-Fünftem zu Tournee-Viertem. Markus Eisenbichl­er, zweimal bei noch mäßigerem Aufwind in der Luft, hatte als Halbzeit-15. Schadensbe­grenzung betreiben können, wurde fürs „Attackiere­n“mit dem drittbeste­n Resultat des Finaldurch­gangs belohnt, war hernach gleicherma­ßen ehrlich („Es war heut’ echt ein brutal harter Wettkampf; ich bin mit einem blauen Auge davongekom­men“) wie (zweck?)optimistis­ch. Bischofsho­fen als „Fliegersch­anze“streue gewaltig, „beim Skispringe­n kann so viel passieren. Man darf nie aufgeben zu glauben, dass was möglich ist.“

„Man muss seine Sachen machen“, sagte der Oberbayer dann noch. Darauf werden sie sich besinnen am zweiten Tournee-Ruhetag, Stefan Horngacher wird sein Sextett auf Training und Qualifikat­ion am Dienstag in Bischofsho­fen einschwöre­n. Damit die Paul-Außerleitn­erSchanze (Hillsize: 142 Meter!) kein XXL-Bergisel wird. „Wir sind hier nicht so ins Springen gekommen, schon im Training nicht.“Das, mutmaßte der Bundestrai­ner, nahm Lockerheit, baute „Überspannu­ng“auf. Und soll sich nicht wiederhole­n.

195 Kilometer weit weg von Innsbruck.

3. Springen der 69. Vierschanz­entournee in Innsbruck (Großschanz­e): 1. Stoch (Polen) 261,6 Punkte (127,5+130 m), 2. Lanisek (Slowenien) 249,6 (127,5+123,5), 3. Kubacki 248,3 (126+127), 4. Zyla (beide Polen) 246,2 (126,5+124,5), 5. Y. Sato (Japan) 245,6 (126,5+130), 6. Eisenbichl­er (Siegsdorf) 245,0 (120,5+128,5), 13. Hamann (Aue) 235,4 (130+124,5), 16. K. Geiger (Oberstdorf) 234,2 (117+128,5), 36. Freund (Rastbüchl) 112,6 (120,5), 37. Paschke (Kiefersfel­den) 111,8 (120,5), 39. C. Schmid (Oberaudorf) 102,1 (113,5). – Gesamtwert­ung Vierschanz­entournee: 1. Stoch 809,9 Pkt.,

2. Kubacki 794,7, 3. Granerud (Norwegen) 789,3, 4. K. Geiger 785,2, 5. Eisenbichl­er 776,5, 22. Hamann 599,5, 31. Paschke 469,5,

32. Freund 466,2, 43. C. Schmid 311,1.

„Kamil Stoch hat keinen Fehler gemacht bis jetzt. So kennt man ihn.“

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FOTO: GEORG HOCHMUTH/AFP Die Lufthoheit über Innsbruck hatten andere: Karl Geiger wurde am Bergisel 16.
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