Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Rekorde und wichtigere Herzensangelegenheiten
Welche Lateinkenntnisse hat Christian Streich, Trainer des SC Freiburg seit 29. Dezember 2011? Verbürgt ist, dass der ausgebildete Industriekaufmann auf dem dem zweiten Bildungsweg das Abitur nachgeholt, dass er Deutsch, Sport und Geschichte für Lehramt studiert hat. Verbürgt ist auch, dass das Wort „Rekord“sich vom lateinischen „recordari“herleiten lässt – sich vergegenwärtigen, sich erinnern. Darin wiederum steckt „cor, cordis“= Herz, Gemüt, Gedächtnis. Was schnörkellos zum 5:0 der Streich-Elf über den 1. FC Köln weiterleitet, gewiss einem der erinnernswertesten unter den jetzt 695 Auftritten der Breisgauer Bundesliga-Historie: Höher hat der Sport-Club noch nie gewonnen (die beiden bisherigen 5:0 über Hansa Rostock und den VfL Bochum stammen zudem aus der Trainer-Hochzeit eines gewissen Volker Finke um die Jahrtausendwende). Dazu war der Sieg am Samstag der fünfte in Folge – Premiere. Vereinsbestmarke. Rekord.
Das Torverhältnis von 16:2 kann wer will als Sahnehäubchen sehen, ebenso, dass zwei vorausgegangene Remis beim FC Augsburg (1:1) und gegen Borussia Mönchengladbach (2:2) die Serie Freiburger Begegnungen ohne
Niederlage auf sieben wachsen lassen. Frage nach Schlusspfiff: Was, Herr Streich, bedeutet Ihnen dieser Rekord? Antwort (man hätte sie ahnen können): „Gar nichts. Es bedeutet mir nur was, dass wir gewonnen haben heute – ein Bundesligaspiel. Um Rekorde oder um sonst irgendwas geht’s gar nicht.“Die Saisonpunkte 21, 22 und 23 sind wichtig, die 16 (!) Zähler Abstand zu einem Abstiegsrang. Da ist Christian Streich Pragmatiker. Herzensangelegenheit (merke: Latein! Merke: cor) beim Blick aufs Köln-Spiel war dem 55-Jährigen anderes: „Dass wir eine gute Entwicklung haben in der Mannschaft. Ich hab’ mich sehr g’freut über Entwicklungen der Spieler – das ist entscheidend.“
Angesprochen fühlen durfte sich da etwa Ermedin Demirovic. Der in Hamburg geborene bosnische Neuzugang, von Deportivo Alavés bis Anfang August 2020 an den FC St. Gallen verliehen, hatte kaum eine Sommerpause. Christian Streich: „Dann war er neu hier, kannte vieles nicht. Aber wie er sich jetzt präsentiert auf dem Platz, was er für die Mannschaft tut: Ich bin sehr, sehr zufrieden mit ihm, was er für ein Arbeitsethos an den Tag legt.“Auf exakt 23 Einsatzminuten war der 22-Jährige bis zum achten Spieltag gekommen, an Spieltag 15 durfte er sich nach 75 Minuten den Beifall seiner Kollegen abholen: Das 1:0 hatte er nach einem missglückten Klärungsversuch von FC-Schlussmann Timo Horn gedankenschnell per Kopf erzielt; dem 3:0 war ein frecher Lauf bis an die Grundlinie samt optimalem Rückpass vorausgegangen. Für Roland Sallai war der Treffer dann eine leichtere Übung. Auch Philipp Lienharts 4:0 hatte Ermedin Demirovic mittels Kopfballverlängerung punktgenau aufgelegt, außerdem gewann er starke 21 seiner 37 Zweikämpfe. Sein Wort zum Tag nach Dienstschluss dürfte Christian Streich gefallen haben: „Es freut mich extrem, dass ich der Mannschaft helfen konnte.“Wiederholung willkommen – vielleicht ja schon kommenden Sonntag: Dann ist der SC Freiburg bei Bayern München zu Gast. Und Ermedin Demirovic gewiss ausgeruht. Hat Christian Streich den Seinen doch – „das erste Mal, seit ich Trainer bin – drei Tage frei gegeben“. Die Erklärung begleitete ein Lächeln: „Ja, ist ’ne Ausnahme.“
Ausnahme bleibt auch – ebenfalls höchst erinnernswert – die Schlechtestmarke
(heißt so wohl das Gegenteil von Bestmarke?) von Tasmania 1900 Berlin. 31 erfolglose Spiele nacheinander hatte der Club aus Berlins Arbeiterbezirk Neukölln 1965/66 bei seinem Bundesliga-Abenteuer quittieren müssen. Für Schalke 04 endete die unfreiwillige Rekordjagd nach Sieglos-Match Nr. 30. Gegen die TSG Hoffenheim gab es ein 4:0, das zu prekärster finanzieller und sportlicher Situation zumindest nicht auch noch geballten Spott kommen ließ. Merken sollte man sich nach einer Vorstellung Marke „Warum nicht öfter so?“a) den Auftritt von Arsenal-Rückkehrer, Sofort-Kapitän und Linksverteidiger Sead Kolasinac samt seinem hübschen Fazit: „Wenn ich mir die weißen Hosen meiner Mannschaftskollegen angucke, die waren komplett dreckig. Das ist das, was wir brauchen und was wir alle sehen wollen.“Sehen will Königsblau (lange schon) b) derlei inspirierte Vorstellungen wie die jüngste von Amine Harit. Der einstige Problemfall glänzte dreimal als Vorbereiter, einmal als Vollstrecker. Nutznießer seines Tagwerks war Matthew Hoppe, hier unter c) aufgeführt, weil ihn wohl kaum einer auf der Rechnung hatte: fünfter Ligaeinsatz, 1:0, 2:0, 3:0. Für Neu-S04-Trainer Christian Gross keine ÜberÜberraschung: „Ich sehe ihn tagtäglich im Training, wo er immer alles gibt. Er hatte diese Chance verdient.“Und sie genutzt. Der 19-jährige Kalifornier, vor eineinhalb Jahren als Perspektivspieler geholt, ist einer, der sich entwickelt. Gut entwickelt. Eine Herzensangelegenheit ...