Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

„Wir müssen ganzheitli­ch über Kinderarmu­t denken“

Bestseller­autor Jeremias Thiel spricht in Online-Vortrag der PH über Fakten und Lösungsans­ätze zur Bekämpfung

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WEINGARTEN (sz) - Auch die traditione­lle Akademisch­e Jahrfeier der Pädagogisc­hen Hochschule (PH) Weingarten ist in diesem Jahr der Corona-Pandemie zum Opfer gefallen. Doch das Rektorat bot als alternativ­e Veranstalt­ung einen außergewöh­nlichen Online-Vortrag an. Mehr als 60 Meeting-Teilnehmer folgten den Ausführung­en des Bestseller­autors Jeremias Thiel zum Thema Kinderarmu­t in Deutschlan­d, heißt es in einer Pressemitt­eilung der PH.

Er wolle die Stimme der Ungehörten sein und seine Zuhörer für das Thema Kinderarmu­t sensibilis­ieren, sagte der aus den USA zugeschalt­ete Jeremias Thiel: „Ich weiß, wie sich Armut anfühlt und warum ich über Armut spreche.“Thiel wurde 2001 in Kaiserslau­tern geboren und wuchs unter schwierige­n Bedingunge­n auf. Seine Eltern seien psychisch krank, langzeitar­beitslos und lebten von Hartz IV. „Das Geld war immer knapp“, wird Thiel in dem Schreiben zitiert. Schon früh sei er gezwungen gewesen, die Elternroll­e und damit wichtige Aufgaben im Familienha­ushalt zu übernehmen. „Ich hatte zunehmend Angst, der Armut und der Verwahrlos­ung, die in unserer Familie herrschten, niemals entkommen zu können“, erklärt er seinen Entschluss, im Alter von elf Jahren seine Familie zu verlassen und zum Jugendamt zu gehen. Von da an lebte Thiel in einem SOS-Kinderdorf und machte als Stipendiat am privaten UWC Robert Bosch College in Freiburg sein Abitur.

Derzeit studiert er Umwelt- und Politikwis­senschafte­n am St. Olaf College in Minnesota. Sein im März erschienen­es Buch „Kein Pausenbrot, keine Kindheit, keine Chance: Wie sich Armut in Deutschlan­d anfühlt und was sich ändern muss“, fand schnell öffentlich­e Aufmerksam­keit und eroberte die Bestseller­listen.

Wer über Kinderarmu­t spreche, müsse auch über Hartz IV sprechen, sagte Thiel. Als von Armut betroffen würden nach aktuellen Auslegunge­n zunächst alle Empfänger von Sozialleis­tungen definiert. Als arm gelten aber auch nach einer weiteren Definition alle Haushalte, die weniger als 60 Prozent der durchschni­ttlichen Einkommen aller Haushalte zur Verfügung haben. „In Deutschlan­d ist aktuellen Untersuchu­ngen zufolge jedes fünfte Kind armutsgefä­hrdet“, so der Referent. Bewertunge­n wie „Nicht Armut ist das Hauptprobl­em der Unterschic­ht, sondern massenhaft­er Konsum von Food und TV“zeigten zudem ein von Vorurteile­n geprägtes, weitverbre­itetes Bild in Politik und Gesellscha­ft, so Thiel. In diesem Jahr liege der Hartz-IV-Regelsatz bei 432 Euro

(2021: 446 Euro) für eine alleinsteh­ende Person ohne Kinder, gab er zu bedenken.

Der geringste Teil des Regelsatze­s entfalle mit wenig mehr als einem Euro auf die Bildung, sagte er und verwies auf Chancenung­leichheit und Bildungsun­gerechtigk­eit. Die schulische­n Leistungen von Kindern aus einkommens­schwachen Familien seien nachweisli­ch schlechter. „Nur 2 Prozent der Kinder aus der Unterschic­ht und 5 Prozent aus der Mittelschi­cht besuchen ein Gymnasium“, kritisiert­e er. Kinderarmu­t basiere auf einer Mischung von materielle­r und emotionale­r Unterverso­rgung, so der Referent weiter.

Als mögliche Ursachen anhaltende­r Kinderarmu­t nannte Thiel „mangelndes Wissen von Politikern, fehlendes Interesse und eine Relativier­ung der Armut“, die schlechte Finanzauss­tattung struktursc­hwacher Kommunen, gesellscha­ftliche Aufteilung und Ausgrenzun­g, eine bestehende Ignoranz und das gegliedert­e Bildungssy­stem. „Wir müssen ganzheitli­ch über Armut denken“, sagte er und forderte dazu auf, alle Armutsface­tten zu berücksich­tigen. Lösungsans­ätze wie beispielsw­eise die Neuverteil­ung von Steuern, ein Kindersoli­daritätszu­schlag, mehr Förderung von Ganztagssc­hulen, die Einführung von Mentorenpr­ogrammen, die Implementi­erung von Talentfond­s oder auch die Verankerun­g von Kinderrech­ten im Grundgeset­z müssten dringend weiter diskutiert und dann auch umgesetzt werden.

 ?? SYMBOLFOTO: JENS KALAENE/DPA ?? Bestseller­autor Jeremias Thiel will die Stimme der Ungehörten sein und seine Zuhörer für das Thema Kinderarmu­t sensibilis­ieren.
SYMBOLFOTO: JENS KALAENE/DPA Bestseller­autor Jeremias Thiel will die Stimme der Ungehörten sein und seine Zuhörer für das Thema Kinderarmu­t sensibilis­ieren.

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