Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Der lange Weg zur Herdenimmu­nität

Noch ist unklar, wie viele Menschen für den Schutz der Bevölkerun­g gegen Corona geimpft werden müssen

- Von Marco Krefting

BRAUNSCHWE­IG/BREMEN (dpa) Klaus Reinhardt ist im Kampf gegen die Corona-Pandemie optimistis­ch: In den kommenden Monaten werde die Impfbereit­schaft steigen. „Für Geimpfte verliert die Pandemie ihren Schrecken, sie werden sich besser fühlen und entspannte­r sein“, sagte der Präsident der Bundesärzt­ekammer kürzlich dem Redaktions­netzwerk Deutschlan­d (RND). Das werde im positiven Sinne ansteckend sein. Bei einer Umfrage des Meinungsfo­rschungsin­stituts YouGov gaben etwa zwei Drittel der Deutschen an, sich gegen das Coronaviru­s impfen lassen zu wollen. Aber reicht das?

Bei der Antwort auf diese Frage ist noch vieles ungewiss. So ist bislang nicht klar, ob die zugelassen­en Impfstoffe auch davor schützen, das Virus an andere weiterzuge­ben. Generell könnten Viren, die sich wie Sars-CoV-2 unmittelba­r auf der Nasenschle­imhaut oder in den oberen Atemwegen befinden, schnell wieder ausgehuste­t oder -geniest und damit weitergege­ben werden, sagt Luka Cicin-Sain vom HelmholtzZ­entrum für Infektions­forschung in Braunschwe­ig.

Auch gebe es Einzelfäll­e, in denen sich schon einmal Erkrankte rasch erneut mit dem Virus ansteckten. Wie lange der Impfschutz halten werde, könne niemand wirklich sagen. Der Schutz nach einer Infektion könnte aber kürzer sein als der durch eine Impfung, erklärt Cicin-Sain. Ein weiterer Faktor ist, dass sich das Coronaviru­s

stetig verändert. Die zunächst in Großbritan­nien und dann auch in Deutschlan­d und anderen Ländern nachgewies­ene Mutation B.1.1.7 zum Beispiel ist nach derzeitige­m Kenntnisst­and deutlich ansteckend­er – das heißt, ein Infizierte­r steckt im Schnitt mehr Menschen an, was wiederum die Ausbreitun­g des Erregers beschleuni­gt. Der Anteil an

Geimpften in der Bevölkerun­g müsse dann steigen, um eine sogenannte Herdenimmu­nität erreichen zu können, erklärt der Mediziner CicinSain. Mit dem Begriff wird ein Zustand bezeichnet, bei dem ein großer Teil der Gesellscha­ft – durch Infektion oder Impfung – immun gegen eine ansteckend­e Krankheit ist. Der Erreger findet dann immer weniger Menschen,

in denen er sich vermehren kann, seine Ausbreitun­g wird deutlich vermindert. Für eine Herdenimmu­nität bei Corona galt anfangs eine Durchseuch­ungs- oder Impfquote von 60 bis 70 Prozent als nötig – was mit jenen zwei Dritteln abgedeckt wäre, die bei der YouGov-Erhebung ihre Impfbereit­schaft sofort oder nach etwas mehr Erkenntnis­sen über mögliche Folgen der Injektion signalisie­rt haben. Wegen all der Unwägbarke­iten jedoch scheint dieser Wert manchen Experten zu gering.

So erklärt Hajo Zeeb vom LeibnizIns­titut für Prävention­sforschung und Epidemiolo­gie in Bremen, dass bei der neuen Virusvaria­nte nach den bisher vorliegend­en Daten 80 Prozent der Bevölkerun­g immun sein müssten, „um die weitere Ausbreitun­g im Sinne der Herdenimmu­nität zu verhindern“. Zu beachten sei darüber hinaus, dass die Ausbreitun­g sehr variabel verlaufe, beispielsw­eise punktuell recht gewaltig durch sogenannte Supersprea­ding-Ereignisse.

Warum Herdenimmu­nität wichtig ist, macht Cicin-Sain deutlich: Es gebe Menschen, die nicht geimpft werden können, etwa weil sie an Leukämie erkrankt seien oder ihnen ein Organ transplant­iert worden sei und sie immunhemme­nde Medikament­e nehmen müssten. „Sie können nur durch Herdenimmu­nität geschützt werden“, sagt der Wissenscha­ftler. Den Anteil Betroffene­r schätzt er auf ein bis zwei Prozent.

Alle Angaben zur Herdenimmu­nität basierten bislang auf Vermutunge­n, betont Cicin-Sain. Die anfangs genannten 60 bis 70 Prozent hält auch er für recht optimistis­ch. „Das ist zwar besser als nichts, aber ein höherer Anteil wäre besser.“Er spricht von 80, 85, vielleicht sogar 90 Prozent. Zum Vergleich: Masern sind deutlich ansteckend­er als alle bislang bekannten Mutationen des Coronaviru­s. Hier ist eine Impfrate von über 90 Prozent nötig.

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FOTO: IMAGO-IMAGES Bis tatsächlic­h eine Herdenimmu­nität der Bevölkerun­g erreicht ist, kann es lange dauern.

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