Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Mordvorwur­f gegen Raser bleibt bestehen

Auf der Flucht vor der Polizei hat ein 35-Jähriger vor einem Jahr einen 14-Jährigen getötet

- Von Britta Schultejan­s

MÜNCHEN (dpa) - Als die Staatsanwä­ltin vorliest, wie der 14-Jährige von dem Auto mit einer Geschwindi­gkeit von mehr als 120 Kilometern pro Stunde erfasst und 43 Meter durch die Luft geschleude­rt wurde, als sie vorliest, welche verheerend­en Verletzung­en die Ärzte bei dem Jungen feststellt­en, wird es dem Angeklagte­n zuviel. „Mir geht's nicht gut. Ich krieg' schlecht Luft“, sagt der 35Jährige. Die Gerichtsve­rhandlung wird unterbroch­en, ein Sanitäter bringt ein starkes Beruhigung­smittel – erst dann kann es weitergehe­n.

Der 35-Jährige bestreitet nicht, verantwort­lich für den Tod des 14Jährigen zu sein. Der Deutsche aus dem Landkreis Bad Tölz-Wolfratsha­usen war am 15. November 2019 um kurz vor Mitternach­t auf der Flucht vor einer Polizeikon­trolle auf der Gegenfahrb­ahn durch die Stadt gerast. Er ignorierte mehrere rote Ampeln und erfasste – nach Angaben der Staatsanwa­ltschaft mit mehr als 120 Kilometern in der Stunde – zwei 14 und 16 Jahre alte Jugendlich­e, die gerade die Straße überquerte­n. Der 14-Jährige starb, die 16-Jährige wurde schwer verletzt.

„Für das, was passiert ist, habe ich keine Worte“, heißt es in einer Erklärung, die seine Anwältin zum Prozessbeg­inn am Dienstag vor dem Landgerich­t München I im Namen ihres Mandanten verliest. „Schock, Schuldgefü­hle, Selbstmord­gedanken“empfinde er. „Heute kann ich sagen, dass ich die Gefahr vollkommen unterschät­zt und mich überschätz­t habe.“In der Erklärung wird geschilder­t, wie der Mann mit einem Freund durch die Stadt fuhr, um ihm sein neues Auto, einen schwarzen BMW, vorzuführe­n, wie er zwei Bier trank, rund zwei Gramm Kokain nahm und schließlic­h auf dem Weg zu seiner Freundin die Ausfahrt verpasste, verbotener­weise wendete – und so die Aufmerksam­keit der Polizei auf sich zog. Wie er Angst bekam, weil er doch laut Bewährungs­unterlagen keinerlei Drogen nehmen durfte. Wie er als Geisterfah­rer durch die

Stadt floh, raste, wie sicher er sich war, es zu schaffen und die Lage im Griff zu haben. „Ich halte mich für einen guten Autofahrer.“Bis zum Tatabend keine Punkte in Flensburg.

Die Staatsanwa­ltschaft wirft dem Angeklagte­n Mord und mehrere Mordversuc­he vor. „Dass bei seiner Fahrweise das von ihm gelenkte Fahrzeug eine nicht vorhersehb­are Anzahl von Menschen töten könnte, nahm er billigend in Kauf“, sagt die Staatsanwä­ltin. „Durch dieses Vorgehen stellte er seine Interessen – nämlich eine erneute Inhaftieru­ng unter allen Umständen zu vermeiden – in krasser Eigensucht über das Lebensrech­t anderer Verkehrste­ilnehmer.“

Die Verteidigu­ng kritisiert diesen Mordvorwur­f: „Es handelt sich hier um eine Mordanklag­e, die vor vier oder fünf Jahren wohl nicht erhoben worden wäre“, sagt seine Anwältin. „Wie kommt man dazu, davon auszugehen, dass unser Mandant vorsätzlic­h Personen ermorden wollte?“Sie erhebt auch Vorwürfe gegen die Polizisten, die den Angeklagte­n verfolgten, nachdem er sich der Kontrolle entzogen hatte. Man müsse sich „mit der Frage auseinande­rsetzen, ob die Reaktion der Polizei ok war“, sagt sie. „Macht es im Hinblick auf die Gefährdung­slage vielleicht gar keinen Unterschie­d, ob ich der Flüchtende oder Verfolgend­e bin?“

Aus ihrer Sicht sollte lediglich eine Verurteilu­ng ihres Mandanten wegen eines illegalen Autorennen­s mit Todesfolge infrage kommen. Damit läge die Höchststra­fe bei zehn Jahren. „Nicht jedes Fehlverhal­ten im Straßenver­kehr, bei dem ein Mensch zu Tode kommt, ist ein Mord.“

Im Falle einer Verurteilu­ng des vorbestraf­ten Angeklagte­n wegen Mordes droht ihm nach Angaben des Gerichts dagegen womöglich sogar die Feststellu­ng der besonderen Schwere der Schuld. Damit wäre dann auch eine vorzeitige Haftentlas­sung nach 15 Jahren so gut wie ausgeschlo­ssen.

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FOTO: SVEN HOPPE/DPA Der wegen Mordes angeklagte 35-Jährige vor Prozessbeg­inn im Gerichtssa­al des Münchner Landgerich­ts: Er war in der Stadt auf der Gegenfahrb­ahn mit mehr als 120 Stundenkil­ometern unterwegs gewesen.

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