Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Schwere Zeiten für die Linde-Familie

An der Weingarten­er Kult-Kneipe hängen auch Zimmer für sozial Schwache

- Von Oliver Linsenmaie­r

WEINGARTEN - Sie ist eine Weingarten­er Institutio­n und aus der Schussentä­ler Kneipensze­ne nicht wegzudenke­n: Die Blues-Rock-Kneipe Linde. Ein echtes Original, das jeder geschunden­en Seele, jedem Nachtschwä­rmer, jedem Freund von lauter Musik und einem ordentlich­en Bier Einlass gewährt. Wie kaum eine andere Kneipe in der Region lebt die Linde von ihren Gästen und mehr noch: Die Gäste von der Linde. Doch wegen der Corona-Pandemie und der damit auferlegte­n Schließung der Gastronomi­e ist der Puls der Weingarten­er Institutio­n aktuell kaum noch zu spüren. Und wenn sich nicht bald etwas ändert, wird in Zukunft wohl weder Blues noch Rock in dem roten Haus, auf dem mit großen weißen Buchstaben „Bar Bistro Linde“geschriebe­n steht, zu hören sein.

„Wenn es im Mai und Juni noch so weitergeht, dann war es das einfach“, sagt Inhaberin Anja Sänger. Die 49-Jährige steht hinter einem leeren Tresen. Alle Tische sind aufgestuhl­t. Wo sonst dichtes Gedränge herrscht, Rauch in der Luft liegt und das eigene Wort kaum zu verstehen ist, gibt es jetzt nur gähnende Leere. Für alle Freunde der Linde ein trauriger Anblick. Und genau das merkt man auch Anja Sänger an.

Denn die Linde ist mehr als nur eine Kneipe. Sie ist ihr Leben. Seit 1998 ist sie eng mit der Linde verbandelt. Seit 2014 nach dem Tod des ehemaligen Inhabers – ihr damaliger Lebensgefä­hrten Andreas Dengler, besser bekannt als „Locke“– führt sie die Gaststätte alleine weiter. Daher hängen immens viele Erinnerung­en an diesem Ort. Eine dauerhafte Schließung mag sich Sänger nicht einmal vorstellen und verdrängt diese düsteren Gedanken. „Uns wurde unserer Arbeitspla­tz genommen. Und das macht Angst. Es sind Zukunftsän­gste. Das ist schon krass“, sagt die Wirtin.

Denn finanziell sieht es alles andere als gut aus. Viereinhal­b Monate ohne echte Einnahmen sind in der Gastronomi­e eigentlich schon das sichere Todesurtei­l. Aktuell retten Sänger noch die staatliche­n Novemberun­d Dezemberhi­lfen. Sie haben zumindest die Fixkosten abgedeckt, auch wenn die Wirtin selbst dadurch kein Gehalt bekommt. Das wird sich auch nicht durch die die Überbrücku­ngshilfe III ändern, auf die Sänger nun aber hofft.

Doch eigentlich wünscht sie sich etwas ganz anderes: die Wiedereröf­fnung. „Mich ärgert unheimlich, dass wir alle Hygienekon­zepte gemacht haben, aber die ersten waren, die geschlosse­n wurden und wahrschein­lich die letzten sein werden, die öffnen dürfen“, klagt sie. So hatte Sänger seit der abermalige­n Schließung im November lange Zeit mittags einen Abholservi­ce angeboten. Doch das war mehr eine Beschäftig­ungstherap­ie und lohnte sich eigentlich überhaupt nicht, so dass die 49-Jährige nun nur noch abends Essen zum Mitnehmen anbietet. „Wenn die Kosten höher sind als die Einnahmen dann brauche ich das auch nicht zu machen“, sagt die Wirtin, die zeitweise 12 bis 14 Stunden im Einsatz war, da sie nun alles selbst machen muss.

Zwar hat sich der zeitliche Aufwand nun reduziert, doch selbst das Abendgesch­äft lohnt sich kaum. „Es ist eine Arbeitsbes­chäftigung. Sonst würde ich zu Hause durchdrehe­n“, sagt Sänger, die weiterhin die gesamte Speisekart­e anbietet. Und: Die kurzen, kleinen Begegnunge­n, wenn die Stammgäste das Essen abholen, verschaffe­n ihr jedes Mal Freude.

Dabei sorgt sich Sänger gar nicht so sehr um sich selbst, sondern vielmehr um die Menschen, die im Haus auf zwei Stockwerke und 14 Zimmer verteilt wohnen. Schon Dengler hatte sozial Schwachen mit den günstigen Zimmern, die vom Sozialamt bezahlt werden, eine zweite Chance gegeben. „Leute, die einen sozialen Abstieg hatten oder durchs Raster gefallen sind, sollten hier immer einen Platz finden“, sagt Sänger. Ob ehemalige Häftlinge, Drogenabhä­ngige oder Lanzeitarb­eitslose: „Da wohnen Leute, die sonst keine Chance hatten. Das ist meine Linde-Familie. Ich trage die Verantwort­ung. Was passiert mit diesen Leuten, die sonst auf der Straße sitzen?“

Denn: Gastronomi­e und Vermietung sind untrennbar miteinande­r verwoben. Ohne die Linde gibt es auch keine Sozialwohn­ungen. „Ich habe das ganze Haus gepachtet. In dem Moment, in ich die Gastro nicht mehr machen kann, fallen auch die Zimmer weg“, erklärt Sänger. Für ihre Bewohner, die teilweise auch mit anpacken und so ein wenig Struktur in ihren Alltag bekommen, wäre das katastroph­al. „Ich merke, dass das etwas mit mir macht und der Akku schon lange nicht mehr voll ist“, sagt Sänger, für die Aufgeben dennoch nicht infrage kommt. „Ich kämpfe bis zum Schluss.“

Dabei helfen ihr auch die treuen Stammgäste, die Freunde, ihr Team, die nicht nur regelmäßig Essen ordern oder nachfragen, wie es der

Wirtin geht. Auch haben sie mit einer Spendenakt­ion im vergangene­n Frühjahr 3000 Euro gesammelt, um Sänger zu helfen. „Ich habe geheult. Mir fällt es schwer, das anzunehmen. Ich bin eigentlich lieber diejenige, die hilft. Aber den Leuten ist es unheimlich wichtig, was mit der Linde passiert“, sagt sie.

Nicht zuletzt deshalb will sich Sänger nicht unterkrieg­en lassen. Fast jede Nacht träume sie von einer vollen Kneipe, habe noch die Bilder aus den vergangene­n Jahrzehnte­n im Kopf: „Die Kneipe war voll, der Abend ging lang, es war laut und sehr arbeitsint­ensiv“, erinnert sie sich mit funkelnden Augen. „Die Linde ist mein Leben. Mir fehlen die Menschen am Tresen. Das macht die Linde aus. Dafür bin ich Wirtin“, sagt sie und die Tränen schießen ihr in die Augen.

Und genau deswegen will die 49-Jährige, die auch den Rückhalt durch ihren neuen Partner betont, weiter durchhalte­n. Die Hoffnung, bald den Biergarten eröffnen zu können, gibt ihr neue Zuversicht. Und vielleicht kann sie ja auch ihren 50. Geburtstag im September in der geöffneten Linde feiern. Das wäre für die Wirtin das mit Abstand größte Geburtstag­sgeschenk.

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Will sich auch in dieser ungewissen Zeit nicht unterkrieg­en lassen: Anja Sänger

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