Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Schwere Zeiten für die Linde-Familie
An der Weingartener Kult-Kneipe hängen auch Zimmer für sozial Schwache
WEINGARTEN - Sie ist eine Weingartener Institution und aus der Schussentäler Kneipenszene nicht wegzudenken: Die Blues-Rock-Kneipe Linde. Ein echtes Original, das jeder geschundenen Seele, jedem Nachtschwärmer, jedem Freund von lauter Musik und einem ordentlichen Bier Einlass gewährt. Wie kaum eine andere Kneipe in der Region lebt die Linde von ihren Gästen und mehr noch: Die Gäste von der Linde. Doch wegen der Corona-Pandemie und der damit auferlegten Schließung der Gastronomie ist der Puls der Weingartener Institution aktuell kaum noch zu spüren. Und wenn sich nicht bald etwas ändert, wird in Zukunft wohl weder Blues noch Rock in dem roten Haus, auf dem mit großen weißen Buchstaben „Bar Bistro Linde“geschrieben steht, zu hören sein.
„Wenn es im Mai und Juni noch so weitergeht, dann war es das einfach“, sagt Inhaberin Anja Sänger. Die 49-Jährige steht hinter einem leeren Tresen. Alle Tische sind aufgestuhlt. Wo sonst dichtes Gedränge herrscht, Rauch in der Luft liegt und das eigene Wort kaum zu verstehen ist, gibt es jetzt nur gähnende Leere. Für alle Freunde der Linde ein trauriger Anblick. Und genau das merkt man auch Anja Sänger an.
Denn die Linde ist mehr als nur eine Kneipe. Sie ist ihr Leben. Seit 1998 ist sie eng mit der Linde verbandelt. Seit 2014 nach dem Tod des ehemaligen Inhabers – ihr damaliger Lebensgefährten Andreas Dengler, besser bekannt als „Locke“– führt sie die Gaststätte alleine weiter. Daher hängen immens viele Erinnerungen an diesem Ort. Eine dauerhafte Schließung mag sich Sänger nicht einmal vorstellen und verdrängt diese düsteren Gedanken. „Uns wurde unserer Arbeitsplatz genommen. Und das macht Angst. Es sind Zukunftsängste. Das ist schon krass“, sagt die Wirtin.
Denn finanziell sieht es alles andere als gut aus. Viereinhalb Monate ohne echte Einnahmen sind in der Gastronomie eigentlich schon das sichere Todesurteil. Aktuell retten Sänger noch die staatlichen Novemberund Dezemberhilfen. Sie haben zumindest die Fixkosten abgedeckt, auch wenn die Wirtin selbst dadurch kein Gehalt bekommt. Das wird sich auch nicht durch die die Überbrückungshilfe III ändern, auf die Sänger nun aber hofft.
Doch eigentlich wünscht sie sich etwas ganz anderes: die Wiedereröffnung. „Mich ärgert unheimlich, dass wir alle Hygienekonzepte gemacht haben, aber die ersten waren, die geschlossen wurden und wahrscheinlich die letzten sein werden, die öffnen dürfen“, klagt sie. So hatte Sänger seit der abermaligen Schließung im November lange Zeit mittags einen Abholservice angeboten. Doch das war mehr eine Beschäftigungstherapie und lohnte sich eigentlich überhaupt nicht, so dass die 49-Jährige nun nur noch abends Essen zum Mitnehmen anbietet. „Wenn die Kosten höher sind als die Einnahmen dann brauche ich das auch nicht zu machen“, sagt die Wirtin, die zeitweise 12 bis 14 Stunden im Einsatz war, da sie nun alles selbst machen muss.
Zwar hat sich der zeitliche Aufwand nun reduziert, doch selbst das Abendgeschäft lohnt sich kaum. „Es ist eine Arbeitsbeschäftigung. Sonst würde ich zu Hause durchdrehen“, sagt Sänger, die weiterhin die gesamte Speisekarte anbietet. Und: Die kurzen, kleinen Begegnungen, wenn die Stammgäste das Essen abholen, verschaffen ihr jedes Mal Freude.
Dabei sorgt sich Sänger gar nicht so sehr um sich selbst, sondern vielmehr um die Menschen, die im Haus auf zwei Stockwerke und 14 Zimmer verteilt wohnen. Schon Dengler hatte sozial Schwachen mit den günstigen Zimmern, die vom Sozialamt bezahlt werden, eine zweite Chance gegeben. „Leute, die einen sozialen Abstieg hatten oder durchs Raster gefallen sind, sollten hier immer einen Platz finden“, sagt Sänger. Ob ehemalige Häftlinge, Drogenabhängige oder Lanzeitarbeitslose: „Da wohnen Leute, die sonst keine Chance hatten. Das ist meine Linde-Familie. Ich trage die Verantwortung. Was passiert mit diesen Leuten, die sonst auf der Straße sitzen?“
Denn: Gastronomie und Vermietung sind untrennbar miteinander verwoben. Ohne die Linde gibt es auch keine Sozialwohnungen. „Ich habe das ganze Haus gepachtet. In dem Moment, in ich die Gastro nicht mehr machen kann, fallen auch die Zimmer weg“, erklärt Sänger. Für ihre Bewohner, die teilweise auch mit anpacken und so ein wenig Struktur in ihren Alltag bekommen, wäre das katastrophal. „Ich merke, dass das etwas mit mir macht und der Akku schon lange nicht mehr voll ist“, sagt Sänger, für die Aufgeben dennoch nicht infrage kommt. „Ich kämpfe bis zum Schluss.“
Dabei helfen ihr auch die treuen Stammgäste, die Freunde, ihr Team, die nicht nur regelmäßig Essen ordern oder nachfragen, wie es der
Wirtin geht. Auch haben sie mit einer Spendenaktion im vergangenen Frühjahr 3000 Euro gesammelt, um Sänger zu helfen. „Ich habe geheult. Mir fällt es schwer, das anzunehmen. Ich bin eigentlich lieber diejenige, die hilft. Aber den Leuten ist es unheimlich wichtig, was mit der Linde passiert“, sagt sie.
Nicht zuletzt deshalb will sich Sänger nicht unterkriegen lassen. Fast jede Nacht träume sie von einer vollen Kneipe, habe noch die Bilder aus den vergangenen Jahrzehnten im Kopf: „Die Kneipe war voll, der Abend ging lang, es war laut und sehr arbeitsintensiv“, erinnert sie sich mit funkelnden Augen. „Die Linde ist mein Leben. Mir fehlen die Menschen am Tresen. Das macht die Linde aus. Dafür bin ich Wirtin“, sagt sie und die Tränen schießen ihr in die Augen.
Und genau deswegen will die 49-Jährige, die auch den Rückhalt durch ihren neuen Partner betont, weiter durchhalten. Die Hoffnung, bald den Biergarten eröffnen zu können, gibt ihr neue Zuversicht. Und vielleicht kann sie ja auch ihren 50. Geburtstag im September in der geöffneten Linde feiern. Das wäre für die Wirtin das mit Abstand größte Geburtstagsgeschenk.