Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Wind, Gegenwind und gestiegene Kosten
Windräder im Norden liefern Energie für den Süden – Warum der Stromtrassenbau nur langsam vorankommt
LEINGARTEN/PHILIPPSBURG (lsw) - Verglichen mit der Größe des Vorhabens sind es bescheidene Anfänge: Eine Grube, Baumaschinen, einige Arbeiter und ein rotes Rohr, das vor dem Umspannwerk Großgartach aus einem kleinen Tunnel ragt. Seit vergangenem Sommer baut der Netzbetreiber TransnetBW in der Nähe von Heilbronn die Infrastruktur für den Endpunkt der geplanten Stromtrasse Suedlink auf. Es tut sich was. Auch bei der zweiten Trasse Ultranet, die in Philippsburg bei Karlsruhe enden wird. Beide Stromautobahnen sollen einmal große Mengen Windstrom aus dem Norden in den Südwesten bringen. Eigentlich schon seit vorgestern.
Um den Energiehunger im wirtschaftsstarken Südwesten auch nach dem Atomausstieg zu stillen, hat der Stromversorger EnBW kräftig in norddeutsche Windparks investiert. Die Windräder drehen sich schon, der milliardenschwere Ausbau der Stromnetze kommt aber nur schrittweise voran. Fertigstellungstermine wurden wiederholt verschoben.
So sollte die fast 700 Kilometer lange Trasse Suedlink, die vom schleswig-holsteinischen Brunsbüttel nach Leingarten-Großgartach bei Heilbronn führt, bis 2022 fertig sein – dann, wenn der letzte Atommeiler in Neckarwestheim vom Netz geht und der Südwesten den Strom aus dem Norden braucht. Inzwischen gehen die Netzbetreiber TransnetBW und Tennet von einer Inbetriebnahme Ende 2026 aus. Die Entscheidung der Politik, die Trasse wegen der besseren Akzeptanz unterirdisch zu verlegen, hat Zeit gekostet – und Geld. Statt mit rund drei Milliarden Euro wird nun mit zehn Milliarden gerechnet.
Für die meisten Abschnitte, darunter die 100 Kilometer in Baden-Württemberg, läuft inzwischen das Planfeststellungsverfahren. Etwa 7000 Einwendungen aus der Bevölkerung wurden bundesweit geprüft. „Es gibt noch einige zu bewältigende Meilensteine für die Suedlink-Fertigstellung, aber wir sind zuversichtlich“, sagt TransnetBW-Sprecher Alexander Schilling. So müsse man in Zeiten der Corona-Pandemie viel Zeit investieren, um die Bürger digital oder per Brief zu informieren und Fragen zu beantworten.
Schneller geht es beim auf etwa eine Milliarde Euro projektierten Ultranet von TransnetBW und Amprion. Die rund 340 Kilometer lange Hochspannungsgleichstrom-Übertragung (HGÜ) von Osterath bei Düsseldorf bis Philippsburg soll 2024 als erste große Nord-Süd-Stromleitung in Betrieb gehen – geplant war einmal 2019. Dabei sollen weitgehend in bestehenden Trassen mit Wechselstrom zusätzliche Leiterseile für Gleichstrom montiert werden.
Bundesweit gibt es Bürgerinitiativen gegen die „Monstertrassen“. Bei der Suedlink-Erdverkabelung befürchten sie „Wärmekontamination“und damit Auswirkungen auf die Natur sowie Tier- und Pflanzenwelt. Die Ultranet-Leitung sorgt dagegen wegen befürchteter Wechselwirkungen für Ängste. Bundesnetzagentur und Netzbetreiber weisen dies zurück:
Auch bei einer Hybridleitung müssten gesetzlich festgelegte Grenzwerte für elektrische und magnetische Felder stets eingehalten werden. Eine Gesundheitsgefährdung bestehe nicht.
Doch Dörte Hamann, Sprecherin des Aktionsbündnisses Trassengegner, meint: „Wir sind die Versuchskaninchen.“Und sie fragt sich: „Geht es wirklich um die Energiewende und Versorgungssicherheit oder um Schnellstraßen für den europäischen Stromhandel? Für ein paar Windstromspitzen braucht man doch keine Milliardenprojekte.“
Proteste gab es auch an den Endpunkten der Trassen, wo in Konvertern Gleichstrom in Wechselstrom für die Weiterverteilung in die Region umgewandelt wird. Gegen die damals geplanten Anlagen nahe am Ort und einen Flächenverbrauch von zehn Hektar grüner Wiese hatte Philippsburgs Bürgermeister Stefan Martus (parteilos) Widerstand angekündigt.
Der hat sich inzwischen erledigt: Mit dem Abbruch der Kühltürme des ehemaligen Kernkraftwerks im Mai wurde Platz geschaffen für die Grundsteinlegung des Gleichstrom-Umspannwerks auf dem AKW-Gelände – weit weg von den Häusern. „Das war ein großer Meilenstein bei Ultranet“, sagt TransnetBW-Sprecher Schilling. „Konstruktiver Widerstand, im Gespräch bleiben und nach Lösungen suchen, lohnt“, so Martus. Die Strommasten gehören am Ex-Atomstandort ohnehin zum Landschaftsbild.