Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
„Wir sind es gewohnt, im Stich gelassen zu werden“
Augenzeugenbericht aus der Kurdenregion Rojava
Der 50 Jahre alte Can Mustafa (Name auf Wunsch geändert) beschreibt die Zustände in Qamischli in der Kurdenregion Rojava. Er ist dort Inhaber eines Ladens. Die Kontaktaufnahme erfolgte über den aus Qamischli stammenden und in Deutschland lebenden Aktivisten und Autor Mohammed Osman.
Gestern musste ich eine neue Gaskartusche kaufen, damit meine Familie kochen kann. Ich stand viereinhalb Stunden in Qamischli an. Als ich an der Reihe war, waren alle verkauft. Ich bin dann in ein arabisches Dorf gefahren. Der Verkäufer wollte mir eine Gasflasche für umgerechnet 25 Euro verkaufen. Das ist mehr als die meisten Menschen derzeit im Monat verdienen. Ich bin also erst einmal wieder nach Hause gefahren, um den Schock zu verdauen.
Vor vier Wochen gab es kein Brot mehr. Wir kennen den Grund dafür nicht. Es wird gemunkelt, dass es wegen der Politik war. Unsere Stadt ist geteilt. Manche Viertel kontrolliert die syrische Armee, andere unsere kurdische YPG-Miliz. Immer wieder kommt es zum Streit. Die Weizenmühle steht in einem von Syrern beherrschten Stadtteil. Wir sind es inzwischen gewohnt, nichts zu essen oder kein Wasser zu haben, weil es zwischen den Parteien Konflikte gibt. Im Sommer 2020 stellten die Türken einer halben Million Menschen in al-Hasaka das Wasser ab. Die kurdische Selbstverwaltung weigerte sich, Strom zu liefern an das Wasserwerk, das von Türken kontrolliert wird. Dann floss kein Wasser mehr. Wir fühlen uns wie gefesselt.
In den ersten Jahren des Krieges gab es unsere Selbstverwaltung
und die Truppen Assads in Rojava. Dann kamen nach dem Beginn des Kampfes gegen den IS 2014 noch die Amerikaner und die Russen. Die Türken stehen seit dem Krieg zwischen unserer Selbstverwaltung und der Türkei im vergangenen Jahr vor unserer Haustür. Es existiert nicht nur ein Staat im Staate, sondern viele. Will ein Händler Ware aus Damaskus nach Rojava liefern, muss er an den Checkpoints der syrischen Armee und der Kurdenmiliz vorbei und bezahlen. Deshalb sind alle Waren so teuer. Wir sehen inzwischen Menschen verhungern in unseren Straßen.
Am meisten wundert mich, dass wir kein Benzin haben. Donald Trump meinte ja, seine Armee solle bei uns bleiben wegen unserer Ölquellen. Als gehörten die jetzt Amerika. Aber er versprach, uns etwas abzugeben. Davon sehe ich nichts. Wir Kurden sind es gewohnt, von der Welt im Stich gelassen zu werden. Wie ihr im Westen gejubelt habt, als wir unsere Töchter und Söhne in den Kampf gegen den IS geschickt haben. Das war ja auch euer Feind. Wir haben euch vertraut. Gegen die Türken habt ihr uns dann im Stich gelassen. Auch wir hatten Hoffnungen, als vor zehn Jahren die Revolution begann. Jetzt sind wir so verzweifelt, dass wir uns ins Jahr 2010 zurückwünschen. Wenn es besser werden soll, sollten die UN eine wirkliche Weltgemeinschaft sein und Syrien unter Mandat stellen – ohne Beteiligung Russlands und der USA.