Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
„Spiritualität gehört zum Wesen des Menschen“
Führt der Glaube an eine höhere Macht zu einem erfüllteren Leben? Ja, wie eine psychologische Studie zeigt
WEINGARTEN - Sind spirituelle oder religiöse Menschen gesünder? Ja, sagt Silvia Queri, Professorin für angewandte Psychologie an der Hochschule Ravensburg-Weingarten, die zu dieser Frage eine umfangreiche Studie vorgelegt hat. Im Interview mit SZ-Redakteur Markus Reppner spricht die 52-Jährige über Stress, Glück und die Rolle des Glaubens.
Frau Queri, sind Sie spirituell oder religiös?
Ja. Ich bin katholisch, habe aber keine aktive Position in der Kirche. Und ich würde mich definitiv als spirituell bezeichnen.
Sie haben zum Thema Spiritualität und Religiosität geforscht. Ist das nicht eigentlich ein Thema für Theologen und weniger für Psychologen?
An das Thema haben sich die Psychologen lange nicht hingetraut, weil Spiritualität doch ein sehr suspekter Bereich ist und man nicht in die parapsychologische Ecke gedrängt werden möchte. Generell versteht sich die Psychologie als Naturwissenschaft, die sehr streng empirisch ausgerichtet ist. Die Amerikaner waren uns da voraus und haben erkannt, dass Spiritualität eine wichtige Gesundheitsressource sein könnte. In Studien hat man gesehen, dass es sehr wohl positive Effekte gibt. Spirituelle Menschen haben beispielsweise weniger Herz-Kreislauf-Erkrankungen und leben dadurch länger. Seit den 90er-Jahren gibt es das mit dem ersten Lehrstuhl für Spiritual Care an der LMU in München und einer Fachzeitschrift auch in Deutschland. Auch bei meinen Studenten ist das Interesse da und einige haben in diesem Bereich ihre Bachelor-Arbeiten geschrieben. Trotzdem bekomme ich bei Abfragen auch die Rückmeldung, was das denn für komische Fragen seien und man fragt, ob ich auch für den Vatikan arbeite.
Ist der Mensch an sich spirituell? Davon gehen wir heute in der Psychologie aus. Es gibt da zwei Ansätze: Ist Spiritualität evolutionär bedingt, also biologisch und der Menschheitsentwicklung geschuldet? Es gibt mittlerweile den Begriff der Neurotheologie. Neuropsychologen untersuchen das Gehirn und legen Befunde vor. Wenn man beispielsweise im temporalen Scheitellappen Bereiche reizt, haben Menschen Erscheinungen. Die haben dann das Gefühl der Erzengel Gabriel oder die Maria seien anwesend. Das ist schon eine schnöde Entzauberung.
Wieso? Kann das nicht für viele ein Argument sein, quasi ein Beweis, dass Spiritualität auch im Körper verankert ist und nicht eine bloße Erfindung?
Ja, das kann man so sehen. Umgekehrt könnte man aber auch argumentieren, da produziert unser Gehirn etwas aufgrund irgendwelcher Anstöße. Trotz größter Anstrengungen wissen wir immer noch nicht, wie unser Gehirn funktioniert. Ich sage meinen Studenten immer, es ist ja schön, dass es diese Bilder gibt, auf denen man sehen kann, in welchem Bereich des Gehirns Emotionen stattfinden. Das erklärt aber nicht, warum Menschen beispielsweise Angst haben und vor allem, wie wir sie ihnen nehmen können. Das ist die Aufgabe der Psychologie.
Und der zweite Ansatz?
Man kann argumentieren, Spiritualität ist in der Kultur verankert. Wir übernehmen die Rituale, die unser Vorfahren gepflegt haben. Es gibt Fakten, die belegen, dass es spirituelle Rituale schon vor 30 000 Jahren geben hat. Das legt nahe, dass der Mensch schon immer spirituell war, um sich das Unerklärliche zu erklären.
Was ist für die Psychologie „Spiritualität“?
Aus Befragungen hat man herausgefiltert, spirituelles Wohlbefinden sei die Verbundenheit mit einer höheren Macht. Das muss nicht Gott sein. Das kann beispielsweise ein Licht sein, das man sich dabei vorstellt. Diese Menschen verbinden das mit einem Gefühl der Harmonie, der Dankbarkeit und des Wohlbefindens. Und auch mit Sinnhaftigkeit, dass eben auch unerklärbare Dinge einen Sinn machen, wie jetzt die Pandemie. Das ist ein ganz wichtiges Kennzeichen von Spiritualität.
Was heißt Sinnhaftigkeit?
Dass es so sein soll und dass es so gut ist, wie es ist. Sinnhaftigkeit ist übrigens als Merkmal von Resilienz in der Gesundheitspsychologie schon lange bekannt. Man hat HolocaustÜberlebende befragt und untersucht, warum Menschen diese Hölle überlebt haben und danach trotzdem ein erfülltes Leben hatten. Spiritualität ist der Sinnhaftigkeit übergeordnet und zeigt mit vielen Konstrukten einen Zusammenhang, die Gesundheit erklären, beispielsweise durch selbstloses Handeln. Psychologisch stimmt der alte Spruch „Geben ist seliger als nehmen“.
Aber selbstloses Handeln hat Grenzen. Das gilt gerade in Heilberufen, wo Menschen sich bis zur Selbstaufgabe für wenig Geld aufopfern und das System das ausnutzt.
Das darf ich als Wissenschaftlerin zwar so nicht sagen, aber meine Studie legt diesen Schluss nahe. Da Menschen durch ihre Spiritualität ein erfüllteres Leben haben und den göttlichen Lohn bekommen, aber in einem Beruf arbeiten, wo das Verhältnis von Lohn und Arbeitsaufwand nicht stimmt, könnte man Arbeitgebern raten, sucht euch solche Menschen, die könnt ihr am besten ausbeuten.
Wie wirkt sich Corona auf die Psyche aus?
Wir sind im Dauerstress und das macht letztlich krank. Wenn der Stresspegel konstant hoch ist, wird ständig Cortisol ausgeschüttet und das greift uns an. Depressive haben beispielsweise erhöhte Cortisolwerte. Cortisol greift außerdem unser Immunsystem an und wir sind dadurch empfänglicher für das Virus und andere Krankheiten bis hin zu Krebs. Auch der Zusammenhang zwischen Stress und psychischen Störungen ist mittlerweile gut belegt. Seit dem zweiten Lockdown kann ich beobachten, dass auch Menschen in meinem Umfeld, die ich als psychisch stabil einschätze nun auch dekompensieren. Das macht mir schon Sorge. Jetzt ist es Zeit, dass es vorangeht, gerade beim Impfen. Die Politik versagt gerade völlig, bei allem Wohlwollen.
Der Glaube an eine höhere Macht hilft bei der Stressbewältigung? Jetzt werde ich spirituell, weil es gesund ist, das funktioniert nicht. Spiritualität hat auch nicht per se eine positive Auswirkung. Sie kann auch negativ sein, beispielsweise jemand wird krank und ist enttäuscht, dass Gott ihn so straft oder prüft. Mit Gott zu hadern, bewirkt auch Stress. Nur auf Gott zu vertrauen, aber hilft auch nicht, nach dem Motto, ich bin gläubig, deshalb bekomme ich Corona nicht.
Es muss schon eine Spiritualität von innen heraus sein, damit sie positiv wirkt. In meiner Studie nimmt die Mehrheit Stresssituationen als Herausforderung: Das ist jetzt meine Aufgabe, mit dieser kritischen Situation zurecht zu kommen. Dies Menschen sagen auch, ich muss mich kümmern, und Gott wird auf mich schauen, dass alles gut wird. Das sind nach der Forschung die gesündesten.
Haben Sie einen Rat?
Ich kann nur sagen: Auf sich schauen und sich öfter mal was Gutes tun. In Bewegung bleiben, etwas tun und sich beschäftigen. Und sich körperlich bewegen. Körperliche Bewegung ist ein ganz wichtiger Gesunderhaltungsfaktor. Der Mensch ist unglaublich anpassungsfähig, er ist zäher als er denkt. Es gibt so etwas wie eine intuitive Psychologie. Sie brauchen nicht unbedingt einen Therapeuten, der ihnen sagt, was sie tun sollen. Wenn sie in sich reinhorchen, wissen Sie es eigentlich selber. Es kommt nicht so sehr darauf an, was ein Mensch erlebt hat, sondern wie er es interpretiert. Ist das Glas halbvoll oder halbleer? Man kann das trainieren, das Positive zu sehen. Eine Übung am Abend kann sein, sich zu sagen, was ist mir heute Gutes passiert? Und wenn es das Lächeln der Supermarktfrau ist, das sie mir heute geschenkt hat. Das Positive gibt es jeden Tag, auch wenn es nur fünf Prozent waren.
Und das Bedürfnis nach Konsum? Wir sind am glücklichsten, wenn wir anderen etwas schenken. Mehr als wenn wir was geschenkt bekommen. Das ist wissenschaftlich erforscht. Geld spielt zwar eine Rolle, aber zu Glücklichsein reicht schon eine mittlere Summe. Mehr Geld macht nicht glücklicher. Glücklich ist ein Mensch, wenn er die einfachsten Bedürfnis befriedigt: körperliches Wohlergehen (Bewegung, Nahrung), Sicherheit, soziale Nähe, Liebe, sich um andere kümmern und sich in die Gemeinschaft sinnvoll einbringen. Das verschafft uns Glücksmomente.