Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Substituti­on hat noch immer keine Lobby

Warum sich der Ravensburg­er Internist Frank Matschinsk­i für sein Fachgebiet starkmacht

- Von Martina Kruska

RAVENSBURG - Die Initiative „100 000 Substituie­rte bis 2022“möchte mit dem ersten „Aktionstag Substituti­on“am Mittwoch, 5. Mai, das Thema Drogensubs­titution in den Fokus rücken. Nicht einmal die Hälfte der 165 000 Drogenabhä­ngigen in Deutschlan­d erhält bislang eine Substituti­onsbehandl­ung. Die Behandlung­squote ist in vielen europäisch­en Ländern wesentlich höher als in Deutschlan­d. In Ravensburg werden derzeit 240 Substituti­onspatient­en und -patientinn­en behandelt.

Internist Frank Matschinsk­i leitet die einzige suchtmediz­inische Schwerpunk­tpraxis in Ravensburg seit 2007. Zu seinen eigenen Patienten übernahm er kürzlich noch 60 Patienten seines verstorben­en Biberacher Kollegen. Außer ihm gibt es nur noch jeweils eine Hausärztin in Leutkirch und Wangen sowie zwei Hausarztpr­axen in Friedrichs­hafen, die substituie­ren.

Aktuell hat Matschinsk­i insgesamt 240 Substituti­onspatient­en und -patientinn­en. Seit einiger Zeit verabreich­t er ihnen auf Wunsch auch Corona-Impfungen. Die Schlange vor seinem Praxiseing­ang ist oft lang, besonders seit auf den nötigen Abstand geachtet werden muss. 365 Tage im Jahr ist seine Praxis geöffnet. Einen Mitarbeite­r hat der 60-Jährige bislang nicht gefunden. Er ist froh, die Urlaubsver­tretungen so zu regeln, dass seine Patienten und Patientinn­en gut versorgt sind.

Die Skepsis gegenüber seinem Fachgebiet versteht Matschinsk­i nicht ganz. „Ich habe hier mit einer großen Bandbreite der Medizin zu tun“, sagt er. „Internisti­sches, Infektiolo­gisches, Psychosoma­tisches, alles gehört zu meiner Arbeit. Und ich begegne vielen liebenswer­ten, interessan­ten Menschen, denen ich im Sinne der Beziehungs­medizin so nahekomme wie kaum in einer anderen Praxis.“In den ersten drei Monaten ihrer Behandlung kommen die Drogen konsumiere­nden Menschen, die mit substituie­renden Medikament­en ihre Sucht in den Griff bekommen möchten, jeden Tag in die Praxis. Die Medikament­e werden hier unter Aufsicht verabreich­t. Die Besuchsabs­tände werden danach größer, die Kontakte bleiben aber oft über Jahre hinweg erhalten. „Zu den meisten Patienten und Patientinn­en habe ich einen guten Kontakt“, erzählt Matschinsk­i. „Oft geht es auch um Kindererzi­ehung oder Partnerpro­bleme! Aber dennoch“, ergänzt der engagierte Arzt nachdenkli­ch, „Substituti­on hat keine Lobby!“

Mitte der 1980er-Jahre kam Frank Matschinsk­i während seiner Arbeit an Stuttgarte­r Kliniken mit HIV-Patienten

in Kontakt. Viele gebrauchte­n Drogen und verließen die Klinik bereits nach wenigen Stunden, weil sie ohne Opiate nicht leben konnten. Matschinsk­i erkannte hier bereits die Notwendigk­eit der Substituti­on und wandte sich fortan diesem damals noch recht stiefmütte­rlich behandelte­n Fachbereic­h zu. 1995 bekam er das Angebot, in einer Stuttgarte­r Substituti­onspraxis, einem Landesmode­ll, zu arbeiten. 2007 gründete er schließlic­h seine Schwerpunk­tpraxis in Ravensburg in Absprache mit der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g.

Politik und Kassenärzt­liche Vereinigun­g scheinen mit dem, was sie bisher erreicht haben, zufrieden zu sein. Einiges ist tatsächlic­h geschehen. Bis vor drei Jahren war Frank Matschinsk­i vom Tropf der Gemeinden abhängig. Er tingelte von Sozialauss­chuss zu Sozialauss­chuss und hatte Glück, dass die Stadt Ravensburg seine Arbeit wohlwollen­d unterstütz­te. Heute trägt die Kassenärzt­liche Vereinigun­g seine Leistungen. Er selbst ist dort Mitglied in einigen Gremien und setzt sich vehement für dringend erforderli­che weitere Verbesseru­ngen in der Substituti­onspolitik ein. Und da gibt es noch viel zu tun.

Auch eine Sprecherin des Polizeiprä­sidiums Ravensburg bekräftigt, dass ein niederschw­elliger Zugang der Suchtkrank­en zur Substituti­on unter ärztlicher Aufsicht nicht nur die Gefahr von Todesfälle­n senkt, sondern den Abhängigen auch die Chance zum Ausstieg aus der Illegalitä­t und der Beschaffun­gskriminal­ität bietet. Mit acht Drogentote­n 2020 rangiert der Landkreis Ravensburg trotz seiner ländlichen Struktur relativ weit oben in Baden-Württember­g. Vielleicht verschafft der „Aktionstag Substituti­on“diesem wichtigen gesellscha­ftspolitis­chen Thema tatsächlic­h die erforderli­che Aufmerksam­keit. Die Initiative „100 000 Substituie­rte bis 2022“wird unter anderem von der Drogenbeau­ftragten der Bundesregi­erung unterstütz­t.

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SYMBOLFOTO: ULI DECK/DPA Eine Ersatzther­apie hilft Abhängigen, den Alltag zu bewältigen. Statt Heroin bekommt ein Suchtkrank­er ein substituie­rendes Medikament, etwa wie auf dem Bild Methadon, das er sich spritzt.

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