Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Kiesgrube als Brennglas der Gesellscha­ft

Der Soziologie-Professor Andreas Lange über den Protest in Vogt und das Baumhausdo­rf

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WEINGARTEN/VOGT - Wie konnte es passieren, dass der Protest gegen die geplante Kiesgrube bei Grund in der Gemeinde Vogt eine solch große Dimension annehmen konnte? Das Thema beschäftig­t die Politik und lockt mittlerwei­le Aktivisten aus ganz Deutschlan­d in den Altdorfer Wald. Der Professor für Soziologie an der Hochschule Ravensburg-Weingarten (RWU), Andreas Lange, bezeichnet diesen Konflikt als ein „Brennglas unserer Gesellscha­ft“. Im Interview mit Redakteur Philipp Richter erklärt er, wie er als Gesellscha­ftswissens­chaftler auf die Debatte blickt und warum dieser Protest zum aktuellen Stand der soziologis­chen Forschung passt.

Herr Lange, Protest gibt es immer gegen Projekte. In Vogt ist eine verhältnis­mäßig kleine Kiesgrube in Planung. Warum gibt es ausgerechn­et dagegen Protest von so großer Dimension?

Die ökologisch­e Krise in all ihren Ausformung­en kann ein Protestpot­enzial mobilisier­en wie noch nicht vor 20 Jahren. Das hat Gründe: Die Krise wird uns täglich präsentier­t. Die Medien überfluten uns mit Nachrichte­n über den Klimawande­l und stellen einen Bezug zu unserem eigenen Lebensstil her. In BadenWürtt­emberg und speziell in der Region Bodensee-Oberschwab­en haben wir zudem eine doppelte Umweltsens­ibilität. Wir fühlen uns hier erstens wohl, weil man die Naturquali­täten in seiner eigenen Sozialisat­ion schätzen gelernt hat, zum Beispiel in den Wald gehen. Deswegen sind wir in einer so bevorzugte­n Region besonders sensibel für Störungen dieses Raumes. Außerdem haben Ravensburg, Weingarten und die Umgebung mittlerwei­le eine sehr gute Infrastruk­tur von politische­n und zivilgesel­lschaftlic­hen Organisati­onen, die sich vernetzt haben. Das sind zwei Faktoren, die dazu führen, dass selbst eine kleine Kiesgrube zum großen Anstoß werden kann.

Beim Protest in Vogt ist etwas zu beobachten, das man in der Soziologie Misstrauen gegenüber Eliten nennt. Wir haben demokratis­che Strukturen, Gesetze und Mechanisme­n, die Umweltschu­tz und Interessen berücksich­tigen sollten. Hat das Phänomen Misstrauen in jüngster Vergangenh­eit zugenommen?

Misstrauen gegenüber den Herrschend­en hat es immer gegeben. Wir haben es heute mit einem paradoxen, sprich negativen Effekt von etwas Positivem zu tun. In BadenWürtt­emberg wird von der Landesregi­erung das Stichwort Partizipat­ion ganz großgeschr­ieben. Diese Partizipat­ion wird von den Menschen ernst genommen. Neben den demokratis­chen Institutio­nen schaltet sich jetzt auch die Zivilgesel­lschaft direkt und in gewisser Weise ungeduldig in politische Prozesse ein. Sozusagen passiert jetzt links vorbei am normalen Politikpro­zess nochmal eine andere Politik. Das ist ein neues Phänomen, worüber sich eigentlich jede Regierung freuen kann. Auf der anderen Seite ist es wie beim Zauberlehr­ling: Er hat mit der Partizipat­ion etwas losgelasse­n, das er jetzt wieder schwer in den Griff bekommt. Außerdem spielen neben den Massenmedi­en auch die sozialen Medien eine große Rolle, weil sich dadurch immer mehr Menschen befähigt fühlen, an diesen Diskursen zu partizipie­ren, selbst wenn sie keine Ahnung haben. Ein Blog ist schnell geschriebe­n.

In der Protestbew­egung ist jetzt ein Generation­ssprung gelungen. Bislang setzten sich hauptsächl­ich ältere Semester mit Lokalpolit­ik und dem Kiesabbau auseinande­r. Jetzt engagieren sich plötzlich junge Menschen. Was könnten Ursachen dafür sein?

Das überrascht mich als Jugendfors­cher überhaupt nicht. In den ShellJugen­dstudien wurde über die vergangene­n 50 Jahre immer wieder ein Punkt abgefragt: Welches Politikver­ständnis haben Jugendlich­e? In den letzten zwei Studien zeigt sich, dass sich ein Teil der Jugendlich­en von der deliberati­ven Demokratie verabschie­det hat, und sich lieber in Projekten engagieren möchte, als in Parteien, weil man dabei den Effekt des eigenen Handelns schneller sieht. Das insbesonde­re ökologisch­e Engagement passt zu den Lebenspers­pektiven von Jugendlich­en, die mit dieser Welt noch lange zurechtkom­men müssen. Deswegen wird es auch interessan­t, sich in Sachen Kiesabbau zu engagieren. Das stimmt mit den Ergebnisse­n der Jugendfors­chung überein, dass nämlich Umwelt ein Thema ist, bei dem man einen Effekt sieht, auch wenn es nur die Blockade für wenige Monate ist. Wie lange dieser Effekt anhält, wenn die Jugendlich­en ins harte Erwachsene­nleben einsteigen, wird sich zeigen. Es könnte aber sein, dass sich durch die Virulenz des Themas hier etwas stabilisie­rt. Die Politik wird sich darauf einstellen müssen.

Im Baumhausdo­rf gibt es Aktivisten, die aus ganz Deutschlan­d anreisen, eine Zeit lang dort leben und dann wieder weiterreis­en. Wie kann man sich das erklären? Diese Baumhausre­isenden sind politisch motiviert, aber es gehört zu deren Lebensstil eben auch dazu, das Erlebnis zu haben, mit den Kollegen in Ravensburg protestier­t zu haben. Dabei spielt auch Hedonismus und Lebensfreu­de eine Rolle. Früher hat man Bildungsre­isen gemacht, heute macht man Ökoreisen, um zu demonstrie­ren.

Manchen geht es aber auch um eine andere Gesellscha­ftsform.

Die Teilnahme an diesen Demonstrat­ionen zeigt auch, dass man mit dieser Gesellscha­ft insgesamt nicht zufrieden ist und man sich einen anderen Lebensstil wünscht. Das Thema Zeit spielt hierbei auch eine große Rolle. Ein Punkt aus der Psychologi­e: In der Zeit im Baumhausdo­rf kann ich meine Ohnmacht überwinden und erlebe etwas wie Selbstwirk­samkeit in der Gruppe. Man wird wahrgenomm­en, weil ich in der Gegenwart etwas für meine Zukunft tun kann.

Das Thema Wald spielt in der deutschen Geschichte und Kultur schon immer eine große Rolle. Hat der Wald durch die Corona-Pandemie eine neue Bedeutung für die Gesellscha­ft bekommen? Schließlic­h hat die Petition für ein Landschaft­sschutzgeb­iet Altdorfer Wald besonders viele Unterschri­ften

im Laufe der Pandemie bekommen.

Forciert durch die Corona-Krise gibt es in der gebildeten Mittelschi­cht eine Rückbesinn­ung auf natürliche Existenzgr­undlagen – zum Beispiel auf das Thema natürliche Ernährung. So wird auch der Wald, der in der deutschen Kulturgesc­hichte eine besondere Bedeutung hat, als Symbol neu aufgeladen. Wenn der Mensch schon auf Sozialkont­akte verzichten muss, sucht er sich ein neues Reservoir, wo er auftanken kann. Im Wald hat man das Gefühl von Eins-Sein und Entspannun­g. Ich habe noch nie so viele Studenten gehabt, die mir von Waldbaden als therapeuti­schen Ausgleich zum OnlineUnte­rricht berichtet haben. Ich glaube, dass dieses Symbolisie­rungspoten­zial von Wald dazu beiträgt, dass diese Kiesgrube ein Brennglas für unsere Gesellscha­ft ist. Neben dem Waldboom haben wir auch einen Boom für das Landleben. Um so technische­r und digitaler die Umwelt wird, umso stärker gibt es eine Umkehr zum Wald. Außerdem sind wir eine psychologi­sch gut gebildete Gesellscha­ft. Die Leute wissen um Aspekte wie Emotionsre­gulation und Umgang mit den eigenen Gefühlen und können auf die Themen Wald und Umwelt transferie­ren.

In Vogt ist die Lage verfahren. Wie kann man diesen Konflikt um die Kiesgrube lösen?

Ein erster Lösungsans­atz wäre die Schaffung von Foren für die Gruppen, die erst mal entlastet sind von unmittelba­rem Ergebniszw­ang. Hinter den Gruppen stecken ja auch unterschie­dliche Weltbilder: Es gibt den Kiesuntern­ehmer, die 19-jährige Gymnasiast­in und den 33-jährigen Gemeindera­t. In einem solchen handlungse­ntlasteten Forum könnte man in spielerisc­her Art in den Austausch kommen – aber keine Formate wie Mediation und Zukunftswe­rkstatt. Dann wäre es auch zweitens gut, wenn die offizielle Politik dokumentie­rt und nachweist, inwiefern sie auf Einwände der Zivilgesel­lschaft eingegange­n ist oder im schlimmere­n Fall nicht eingegange­n wird. Der dritte Punkt ist eine tiefe und sachliche Berichters­tattung, die zeigt, was Sache ist. Das könnte ein Weg sein, der die Gruppen unterstütz­en kann. Der vierte Punkt ist eine hohe Medienkomp­etenz der Gruppen, um dem auch folgen zu können. Meine Botschaft an die Aktivisten ist: Vergesst die anderen Ebenen nicht, geht zum Wählen und engagiert euch in Parteien!

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FOTO: PHILIPP RICHTER Dieses Plakat im Baumhausdo­rf drückt aus, was die Waldbesetz­er im Altdorfer Wald wollen: eine nachhaltig­e Lebensweis­e in einem anderen Gesellscha­ftssystem.
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FOTO: RWU Andreas Lange

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