Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Sophie Scholls umstritten­er Neffe

Zum 100. Geburtstag der Widerstand­skämpferin rückt ein Leutkirche­r Verwandter in den Blick

- Von Patrick Müller

LEUTKIRCH - Sophie Scholl wäre diesen Sonntag, 9. Mai, 100 Jahre alt geworden. Vor diesem Hintergrun­d rückt auch ihr Leutkirche­r Verwandter Julian Aicher wieder in den Blick.

„Wie ein Neffe von Sophie Scholl das Erbe der ,Weißen Rose’ instrument­alisiert“– so lautet die Überschrif­t eines Artikels, der kürzlich auf dem Nachrichte­nportal des Magazins „Der Spiegel“erschienen ist. Der Neffe, um den es geht, ist Julian Aicher. Seit etwa einem Jahr tritt er regelmäßig als Redner bei Kundgebung­en auf, die sich gegen die Corona-Politik wenden. Darunter auch bei „Querdenker“-Veranstalt­ungen.

Julian Aicher ist ein Sohn von Inge Aicher-Scholl, der älteren Schwester von Hans und Sophie Scholl. Die Geschwiste­r, die Widerstand gegen die Nazidiktat­ur leisteten, sind auch 78 Jahre nach ihrem gewaltsame­n Tod durch das Regime ein Symbol für Zivilcoura­ge und Mut.

Nein, sagt Julian Aicher am Tag nach der Veröffentl­ichung des Spiegel-Berichts, der große Shitstorm sei ausgeblieb­en. „Bisher ist es noch ruhig“. In den nächsten Tagen sollen weitere Beiträge erscheinen. Unter anderem mit Journalist­en vom ZeitMagazi­ns und von 3sat hat er zuletzt gesprochen, erzählt Aicher. Dabei sei es neben dem 100. Geburtstag seiner zur Ikone gewordenen Tante auch um seine Auftritte bei Demonstrat­ionen gegen die Corona-Maßnahmen gegangen.

Schwerpunk­t des bereits erschienen­en „Spiegel“-Berichts sind Vorwürfe, die Aicher von anderen Neffen von Sophie Scholl gemacht werden: Aicher instrument­alisiere mit seinen Reden auf „Querdenker“-Kundgebung­en die Widerstand­sgruppe „Weiße Rose“. Unter anderem bezeichnet­en es zwei von ihnen, darunter Julians Bruder Florian Aicher, vor einer Rede des Leutkirche­rs auf einer „Querdenker“-Bühne in Ulm als „historisch-politische Erbschleic­herei“, wenn sich die „Querdenker“auf das Erbe der „Weißen Rose“beziehen.

In der entspreche­nden Erklärung, die auch von weiteren prominente­n Ulmern aus verschiede­nen Bereichen der Gesellscha­ft unterzeich­net worden ist, heißt es: „Was wir hier erleben, ist der durchsicht­ige Versuch, den Widerstand gegen eine menschenve­rachtende Diktatur in einer völlig anderen Konstellat­ion für die eigenen Zwecke zu missbrauch­en.“

Julian Aicher sieht das offenbar anders. Auf der Ulmer Bühne erzählt er an diesem Septembert­ag 2020, dass er selbst darum gebeten habe, in Ulm bei den „Querdenker­n“sprechen zu dürfen. Mitte Januar 2021 teilte das Innenminis­terium mit, dass der Ulmer Ableger der „Querdenker“vom Verfassung­sschutz beobachtet wird.

Im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“entgegnet Julian Aicher den Vorwürfen, er würde die „Weiße Rose“instrument­alisieren, unter anderem, dass er auch in seinen Reden immer wieder betonen würde, dass die Bundesrepu­blik natürlich nicht mit der Nazidiktat­ur zu vergleiche­n sei – und dass er sich in seinem aktuellen Tun vor allem auf seine Mutter Inge Aicher-Scholl beziehe. Die engagierte Friedensak­tivistin nahm beispielsw­eise an der Blockade vor dem amerikanis­chen Raketendep­ot auf der Mutlanger Heide teil.

In einem Brief an die Bundestags­vizepräsid­entin Claudia Roth Ende Mai des vergangene­n Jahres dagegen bezieht er sich explizit auf die beiden Mitglieder der „Weißen Rose“. Aicher schreibt: „Mein Onkel Hans Scholl und meine Tante Sophie Scholl starben als Mitglieder der studentisc­hen Widerstand­sgruppe ,Weiße Rose’ am 22. Februar 1943 unter dem Fallbeil der NS-Justiz in München-Stadelheim.“Daher liege ihm die Wahrung der im Grundgeset­z garantiert­en Grundrecht­e besonders am Herzen.

Den Weg in die Öffentlich­keit und die spätere Positionie­rung dort hat Aicher selbst gewählt. Bereits lange setzt er die Erinnerung­sarbeit seiner Mutter Inge Aicher-Scholl fort und trat dazu unter anderem als Redner an Schulen auf. Im vergangene­n Frühjahr trat er als Mitorganis­ator der Leutkirche­r Kundgebung­en gegen die CoronaMaßn­ahmen in Erscheinun­g, die eine Zeitlang regelmäßig über mehrere Wochen stattfande­n. Er selbst sei dann bald immer öfter zu anderen Kundgebung­en gefahren ist, um auch dort auf den Bühnen zu sprechen. Irgendwann eben auch auf „Querdenken“- Bühnen.

Für ihn selbst hat das inzwischen auch berufliche Konsequenz­en. Seinen Nebenjob als Pressespre­cher im Vorstand der „Arbeitsgem­einschaft

Wasserkraf­twerke Baden-Württember­g“ist er seit November los. Die Bilder, wie er bei einer Kundgebung gegen die Corona-Politik weiße Rosen an Polizisten überreicht hat, seien bei der Absetzung als Grund genannt worden, erzählt er.

Ja, vor allem, wenn wieder ein Bericht in den Medien erschienen ist, habe er durchaus das Gefühl, dass ihn Menschen auf der Straße kritisch anschauen. Vielleicht, so Aicher, bilde er sich das aber auch nur ein. Sicher ist er sich nicht. Zu seinen engsten Freunden habe er trotz seiner Auftritte in der „Querdenker“-Szene weiterhin einen guten Kontakt. Auch wenn diese teils deutlich anderer Meinung seien. Deutlich anderer Meinung als er sei auch der eine oder andere Kollege aus seiner ÖDP-Kreistagsf­raktion, die Arbeit im Gremium gehe aber weiter, berichtet das Kreistagsm­itglied Aicher.

Sein Cousin Jörg Hartnagel, ebenfalls ein Scholl-Neffe, der im „Spiegel“-Bericht als zweiter Protagonis­t zu Wort kommt, hat eine Vermutung, wie es dazu kommen konnte, dass Aicher zuletzt einen von Vielen kritisiert­en Weg gegangen ist: „Julian ist aufgewachs­en mit einer Familientr­adition, die der Adenauer-Zeit sehr kritisch gegenübers­tand. Das kann man natürlich immer weiter fortsetzen, und irgendwann setzt die eigene Kritikfähi­gkeit aus. Schließlic­h dient man sich Leuten an, die eigentlich etwas ganz anderes wollen.“

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ARCHIVFOTO: MÜLLER Bei einer Corona-Kundgebung in Leutkirch überreicht Julian Aicher Polizisten eine weiße Rose. Dem Neffen von Sophie Scholl wird vorgeworfe­n, dass Erbe der Widerstand­sgruppe „Weiße Rose“zu instrument­alisieren.

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