Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Sophie Scholls umstrittener Neffe
Zum 100. Geburtstag der Widerstandskämpferin rückt ein Leutkircher Verwandter in den Blick
LEUTKIRCH - Sophie Scholl wäre diesen Sonntag, 9. Mai, 100 Jahre alt geworden. Vor diesem Hintergrund rückt auch ihr Leutkircher Verwandter Julian Aicher wieder in den Blick.
„Wie ein Neffe von Sophie Scholl das Erbe der ,Weißen Rose’ instrumentalisiert“– so lautet die Überschrift eines Artikels, der kürzlich auf dem Nachrichtenportal des Magazins „Der Spiegel“erschienen ist. Der Neffe, um den es geht, ist Julian Aicher. Seit etwa einem Jahr tritt er regelmäßig als Redner bei Kundgebungen auf, die sich gegen die Corona-Politik wenden. Darunter auch bei „Querdenker“-Veranstaltungen.
Julian Aicher ist ein Sohn von Inge Aicher-Scholl, der älteren Schwester von Hans und Sophie Scholl. Die Geschwister, die Widerstand gegen die Nazidiktatur leisteten, sind auch 78 Jahre nach ihrem gewaltsamen Tod durch das Regime ein Symbol für Zivilcourage und Mut.
Nein, sagt Julian Aicher am Tag nach der Veröffentlichung des Spiegel-Berichts, der große Shitstorm sei ausgeblieben. „Bisher ist es noch ruhig“. In den nächsten Tagen sollen weitere Beiträge erscheinen. Unter anderem mit Journalisten vom ZeitMagazins und von 3sat hat er zuletzt gesprochen, erzählt Aicher. Dabei sei es neben dem 100. Geburtstag seiner zur Ikone gewordenen Tante auch um seine Auftritte bei Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen gegangen.
Schwerpunkt des bereits erschienenen „Spiegel“-Berichts sind Vorwürfe, die Aicher von anderen Neffen von Sophie Scholl gemacht werden: Aicher instrumentalisiere mit seinen Reden auf „Querdenker“-Kundgebungen die Widerstandsgruppe „Weiße Rose“. Unter anderem bezeichneten es zwei von ihnen, darunter Julians Bruder Florian Aicher, vor einer Rede des Leutkirchers auf einer „Querdenker“-Bühne in Ulm als „historisch-politische Erbschleicherei“, wenn sich die „Querdenker“auf das Erbe der „Weißen Rose“beziehen.
In der entsprechenden Erklärung, die auch von weiteren prominenten Ulmern aus verschiedenen Bereichen der Gesellschaft unterzeichnet worden ist, heißt es: „Was wir hier erleben, ist der durchsichtige Versuch, den Widerstand gegen eine menschenverachtende Diktatur in einer völlig anderen Konstellation für die eigenen Zwecke zu missbrauchen.“
Julian Aicher sieht das offenbar anders. Auf der Ulmer Bühne erzählt er an diesem Septembertag 2020, dass er selbst darum gebeten habe, in Ulm bei den „Querdenkern“sprechen zu dürfen. Mitte Januar 2021 teilte das Innenministerium mit, dass der Ulmer Ableger der „Querdenker“vom Verfassungsschutz beobachtet wird.
Im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“entgegnet Julian Aicher den Vorwürfen, er würde die „Weiße Rose“instrumentalisieren, unter anderem, dass er auch in seinen Reden immer wieder betonen würde, dass die Bundesrepublik natürlich nicht mit der Nazidiktatur zu vergleichen sei – und dass er sich in seinem aktuellen Tun vor allem auf seine Mutter Inge Aicher-Scholl beziehe. Die engagierte Friedensaktivistin nahm beispielsweise an der Blockade vor dem amerikanischen Raketendepot auf der Mutlanger Heide teil.
In einem Brief an die Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth Ende Mai des vergangenen Jahres dagegen bezieht er sich explizit auf die beiden Mitglieder der „Weißen Rose“. Aicher schreibt: „Mein Onkel Hans Scholl und meine Tante Sophie Scholl starben als Mitglieder der studentischen Widerstandsgruppe ,Weiße Rose’ am 22. Februar 1943 unter dem Fallbeil der NS-Justiz in München-Stadelheim.“Daher liege ihm die Wahrung der im Grundgesetz garantierten Grundrechte besonders am Herzen.
Den Weg in die Öffentlichkeit und die spätere Positionierung dort hat Aicher selbst gewählt. Bereits lange setzt er die Erinnerungsarbeit seiner Mutter Inge Aicher-Scholl fort und trat dazu unter anderem als Redner an Schulen auf. Im vergangenen Frühjahr trat er als Mitorganisator der Leutkircher Kundgebungen gegen die CoronaMaßnahmen in Erscheinung, die eine Zeitlang regelmäßig über mehrere Wochen stattfanden. Er selbst sei dann bald immer öfter zu anderen Kundgebungen gefahren ist, um auch dort auf den Bühnen zu sprechen. Irgendwann eben auch auf „Querdenken“- Bühnen.
Für ihn selbst hat das inzwischen auch berufliche Konsequenzen. Seinen Nebenjob als Pressesprecher im Vorstand der „Arbeitsgemeinschaft
Wasserkraftwerke Baden-Württemberg“ist er seit November los. Die Bilder, wie er bei einer Kundgebung gegen die Corona-Politik weiße Rosen an Polizisten überreicht hat, seien bei der Absetzung als Grund genannt worden, erzählt er.
Ja, vor allem, wenn wieder ein Bericht in den Medien erschienen ist, habe er durchaus das Gefühl, dass ihn Menschen auf der Straße kritisch anschauen. Vielleicht, so Aicher, bilde er sich das aber auch nur ein. Sicher ist er sich nicht. Zu seinen engsten Freunden habe er trotz seiner Auftritte in der „Querdenker“-Szene weiterhin einen guten Kontakt. Auch wenn diese teils deutlich anderer Meinung seien. Deutlich anderer Meinung als er sei auch der eine oder andere Kollege aus seiner ÖDP-Kreistagsfraktion, die Arbeit im Gremium gehe aber weiter, berichtet das Kreistagsmitglied Aicher.
Sein Cousin Jörg Hartnagel, ebenfalls ein Scholl-Neffe, der im „Spiegel“-Bericht als zweiter Protagonist zu Wort kommt, hat eine Vermutung, wie es dazu kommen konnte, dass Aicher zuletzt einen von Vielen kritisierten Weg gegangen ist: „Julian ist aufgewachsen mit einer Familientradition, die der Adenauer-Zeit sehr kritisch gegenüberstand. Das kann man natürlich immer weiter fortsetzen, und irgendwann setzt die eigene Kritikfähigkeit aus. Schließlich dient man sich Leuten an, die eigentlich etwas ganz anderes wollen.“