Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Vom Hütebuben zum Aktivisten
In der Jugend von Hubert Gessler aus Wolpertswende spielte ein Nazi eine üble Rolle
WOLPERTSWENDE - Wer das Glück hatte, auf einer Wanderung des Albvereins mit Hubert Gessler aus Mochenwangen ins Gespräch zu kommen, dem erzählte der bescheidene, zurückhaltende Mann aus einer Familie in Wolpertswende mit 13 Kindern, von denen fünf, darunter Drillinge, früh starben, schon mal aus seiner Jugend. Und die war bitterhart. Denn Hubert Gessler musste sich als Junge bei einem Bauern in Blönried, einige Kilometer entfernt von seinem Elternhaus, das er vier Jahre lang kaum wiedersah, als Hütebub verdingen, so wie auch sein Bruder Josef Gessler (83), der heute in Baindt lebt, bei einem anderen Landwirt in Segelbach.
Heimweh? Das zählte nicht. Harte Kinderarbeit war angesagt, so wie auch bei den Schwabenkindern aus Vorarlberg und Tirol. „Glaubscht du, i hab’ di nur zum Fressen?“erinnert sich Josef Gessler noch heute, als wäre es gestern gewesen, an einen Ausspruch seines Arbeitgebers. Sein Bruder Hubert, erzählt er, hatte es zwar etwas besser getroffen, aber beide mussten als Hütekinder bei Wind und Wetter bis in den nassen und kalten Oktober oder sogar November hinein beim Vieh auf der Weide ausharren, ohne gut schützende Kleidung, mit schlechtem oder gar keinem Schuhwerk. Um die eiskalten Füße zu wärmen, stellten sie sich in warme Kuhfladen.
Wahrscheinlich hätten die beiden Brüder als Kinder nicht so harte Jahre durchleiden müssen, wäre da nicht ein fanatischer Ortsgruppenleiter in Wolpertswende gewesen. Der nämlich wollte unbedingt, dass der Vater der beiden Buben und weiterer Kinder, der ein geselliger, angesehener, geradliniger und an den Stammtischen bestens vernetzter Schneidermeister war, ein Original und zudem ein guter Redner, in die Nazipartei eintritt. Die konnte gute Redner gebrauchen. Doch sein Vater, so erinnert sich Josef Gessler, wollte nicht, denn er war kein Freund der Nazis.
Daraufhin statuierte der Ortsgruppenleiter an ihm ein Exempel. Der Nazi rief zum Boykott seiner Schneiderwerkstatt auf, der befolgt wurde. Vater Gessler bekam keine Aufträge mehr, geriet mit seiner vielköpfigen Familie in Not. Der Vater musste sich als Knecht verdingen und zwei seiner Buben zu fremden Bauern schicken. Es muss 1938 oder 1939 gewesen sein, so Josef Gessler, als besagter NSDAP-Ortsgruppenleiter seinen Vater wissen ließ, wenn er sich freiwillig zur Wehmacht melde, werde die Partei für seine Familie sorgen. Vater Gessler in seiner Not rückte ein, machte den Frankreichund den Russlandfeldzug bis vor Moskau mit, zog sich eine schwere Lungenentzündung zu, die seine Lunge großenteils zerstörte, wurde in einer Lungenheilanstalt in Rosenharz behandelt, aber aufgegeben, lag schon in der Leichenkammer, wo eine Ordensfrau bemerkte, dass er noch lebte. Der Vater überlebte schließlich noch 35 Jahre mit einem Lungenrest. Er scheiterte zusammen mit Gleichgesinnten 1948 mit einem Einspruch gegen die Wiederwahl eines Wolpertswender Nazi-Bürgermeisters.
Seine Buben Hubert und Josef ließ er nach dem Krieg Handwerksberufe lernen. Der gelernte Flaschner und Installateur Hubert arbeitete später bei der Maschinenfabrik Weingarten, heiratete 1958 seine Fanny aus Mochenwangen. Drei Kinder, fünf Enkel und drei Urenkel waren seine ganze Freude. Doch die große Leidenschaft des mit der Landesehrennadel ausgezeichneten bescheidenen Mannes war der Schwäbische
Albverein, speziell die nicht mehr bestehende Ortsgruppe Wolpertswende, der er als Wegewart, Wanderführer, zweiter und erster Vorsitzender seit seinem Eintritt in den SAV 1971 jahrzehntelang völlig uneigennützig diente und in der er als der Motor der Gruppe viel bewegt hat, neue Ideen ins Jahresprogramm einbrachte, das bis zu 30 Veranstaltungen im Jahr umfasste. Hubert Gessler, vielfach ausgezeichnet beim SAV, sollte in diesem Jahr für 50-jährige Mitgliedschaft erneut geehrt werden. Es war ihm nicht mehr vergönnt. Er ist 85-jährig verstorben. Auf dem Friedhof in Mochenwangen hat seine Familie – darunter fünf noch lebende Geschwister – von ihm Abschied genommen.