Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Kaiserin Sisi als Trösterlein
RTL hat durch eine Neuverfilmung die Person der österreichischen Monarchin Elisabeth wieder aktuell gemacht – Doch Handlung und Charaktere stehen oft konträr zur wirklichen Geschichte
RAVENSBURG - Nur eines ist bei
Sisi unverrückbar: Die Geschichte der österreichischen Kaiserin geht nicht gut aus. Dies liegt am italienischen Anarchisten Luigi Lucheni. Er ersticht die damals 60-Jährige am 10. September 1898 auf der Seepromenade im noblen Genf. Tatwaffe: eine angespitzte Feile. Laut der Überlieferung hat Sisi den Stich ins Herz gar nicht richtig mitbekommen. Sie ging von einem Faustschlag aus, unterhält sich noch mit einer Hofdame, besteigt einen Dampfer – und bricht dann erst zusammen. Ihre letzten Worte sollen gewesen sein: „Aber was ist denn mit mir geschehen?“
In Anlehnung daran kann heutzutage gefragt werden, was denn mit der wirklichen Historie Sisis geschehen ist. Den Blick darauf verstellen in erster Linie Filme. Sie haben die Kaiserin zum Mythos werden lassen. Zuletzt ist RTL am Werk gewesen, ein Sechsteiler, gesendet vor dem Jahreswechsel. Gleich in der Eingangsszene wird Sisi als junges Mädchen gezeigt, das sich selbst befriedigt. Und als ihren späteren Gatten Kaiser Franz Joseph I. ein männliches Bedürfnis überkommt, verfolgen ihn die Kameras ins Bordell. „Ein neuer Blick“auf die Sisi-Geschichte soll dies sein, wie Regisseur Sven Bohse verkündet hat. Feministisch, aktuell.
In einer Kritik der Zeitschrift „Stern“wird eher ein „versextes“Hochadelspaar gesehen. Aus der ehemaligen Kaiserstadt Wien heißt es in der „Kronenzeitung“, dem boulevardesken Leib- und Magenblatt vieler Österreicher, lapidar: „Sex sells.“Mag sein. Die Quoten legen dies nahe. Jedenfalls glaubt RTL offenbar an das Konzept der modernen Sisi und hat das Drehen einer zweiten Staffel angekündigt. Die Geschichte geht also weiter – und sicher auch die Diskussion darüber.
Bisher lässt sich zur RTL-Verfilmung sagen: Sie ist professionelle Unterhaltung abseits tatsächlicher Ereignisse oder Charaktere. Historisch sind alleine Kostüme, Kulissen oder auch Namen und Jahreszahlen. Wobei der größte Sündenfall im Erzählen der Sisi-Geschichte mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegt. Es handelt sich um die Trilogie des Wieners Ernst Marischka. Sie macht Romy Schneider in der Hauptrolle legendär – und verwandelt Kaiser-Darsteller Karlheinz Böhm für den Rest seines Lebens zu Sisis Gatten.
Kurios ist, dass bei diesem Streifen bereits der Titel einen Fehler enthält. Es ist von Sissi mit Doppel-s die Rede, eingeführt als Kosename der Kaiserin, die korrekt Elisabeth heißt. Die historische Sisi begnügte sich jedoch bei der neckischen Abkürzung mit einem s in der Mitte. Eine Kleinigkeit am Rande, könnte man meinen. Sie weist aber den
Weg in die Abgründe damaliger Heimatfilme. Romy Schneiders Sissi mit zwei ss gehört zu diesem Reigen: heile Welt, ein heiterer Tenor, nur kurzzeitig von Schicksalsschlägen unterbrochen. Die Kaiserin als frisches Mädel, der Kaiser als schmucker Jüngling, der sich bemüht, ein Reich zu regieren, das vom Bodensee bis hinein ins heutige Rumänien und in die Ukraine reicht. So schön können Märchen sein.
Auch die Filme mit Romy Schneider sind gut erzählt. Sie attackieren mitunter vehement die Gefühlswelt der Zuschauer. Unvergessen ist folgende Szene aus der Trilogie: Venedig steht noch unter österreichischer Herrschaft. Die Venezianer mögen dies aber gar nicht. Sie wollen deshalb einen Kaiserbesuch in der Lagunenstadt boykottieren. Auf dem Markusplatz rennt dann Sisis kleine Tochter in die Arme ihrer Mutter. Das Herz der Venezianer wird erweicht. Begeistert erschallt von ihnen der Ruf: „Viva la Mamma!“Dem filmischen Kaiserpaar wird plötzlich zugejubelt – und im wirklichen Leben der 1950er-Jahre rinnen mancher Mutter vor Rührung die Tränen aus den Augen.
Historisch gesehen ist dieses Filmereignis Quatsch. Der Empfang bleibt laut Zeitzeugen eisig. Das stolze Venedig war bis 1797 als selbstgefeierte „Serenisima republica“unabhängig gewesen. Wirren der folgenden Napoleonischen Zeit haben die Stadt unter österreichische Herrschaft gebracht. Wobei die Venezianer die fremden Herren unablässig zum Teufel wünschen – Sisi hin oder her. Willkommen in der wirklichen Geschichte. Im Fall der Kaiserin ist sie sogar in weiten Zügen recht fade.
Zur Welt kommt Sisi am Heiligen Abend 1837 in München. Sie gehört einer Seitenlinie der damals im Königreich Bayern herrschenden Wittelsbacher an. Ihre Jugendjahre sind geprägt von der üblichen Erziehung höherer Töchter, um dem später unvermeidlichen Gemahl keine Schande zu machen. Wobei sie abseits der regierenden Monarchen während der Sommermonate am Starnberger See auf Schloss Possenhofen eher zur Landpomeranze heranreift.
Ihr Schicksal trifft sie mit 15 Jahren. In Wien muss das Fortbestehen der kaiserlichen Habsburger-Dynastie gesichert werden. Franz Joseph steht dafür in der Verantwortung. Seine Mutter Erzherzogin Sophie sucht deshalb für ihren Filius eine gute Partie. So begibt sich, dass der Kaiser 1853 im monarchistischen Nobelbad Ischl seinen 23. Geburtstag feiert. Alle mögliche Verwandtschaft kommt zusammen, darunter Sisi, eine Cousine. Franz Joseph verliebt sich offenbar auf einen Schlag in sie. Sie fühlt sich geehrt, findet den jungen Mann ebenso anziehend. Ein Dreiviertel
Jahr später wird geheiratet.
Das bittere Erwachen kommt schnell. Sisi ist zuvor trotz aller Gouvernanten ein relativ legeres Leben gewohnt gewesen – wenigstens im Vergleich zu dem, was sie in Österreich erlebt. Sie wird sofort ins strenge Hofzermoniell eingebunden. Es geht um das ständige Einhalten antiquierter Etikette, so steif wie seinerzeit die Frauenkorsette. Ihre Schwiegermutter wacht wie ein Höllenhund darüber. Schon zwei Wochen nach ihrer Hochzeit dichtet Sisi: „Ich bin erwacht in einem Kerker, / Und Fesseln sind an meiner Hand ...“
Hochheiligste Aufgabe der jungen Frau ist es, einen Thronfolger zu gebären. Vier Kinder wird die Kaisergattin schließlich zur Welt bringen: einen Sohn und drei Töchter. Eines der Mädchen stirbt in früher Kindheit an einem Fieber. Der potenzielle Thronfolger Rudolf nimmt sich 1889 zusammen mit seiner Geliebten Mary Vetsera auf dem niederösterreichischen Schloss Mayerling das Leben. Eine Affäre, die die bereits morsche Vielvölkermonarchie ins Herz trifft. Sisi selbst trägt daraufhin in ihren letzten Lebensjahren nur noch schwarze Kleider.
Da ist das Band zwischen Kaiserin und Kaiser schon längst nur noch von offizieller Natur. Sisi fördert höchstselbst die Kontakte Franz Josephs zur Schauspielerin Katharina Schratt, um ihre Ruhe vor dem inzwischen mit einem gemütlichen Backenbart verzierten Gatten zu haben. Die Verbindung des Monarchenpaars hat sich aber bereits nach der Hochzeit gelockert. Er kümmert sich um Staatsgeschäfte, ab und zu auch um irgendwelche Liebschaften. Dass sie selbst Affären gehabt hätte, ist unbewiesen. Was Sisi aber letztlich macht, ist ein baldiges Abschiednehmen aus dem festgefügten Leben am Kaiserhof in Wien.
1860, nur sechs Jahre nach der Hochzeit, kommt es zu einem Schlüsselereignis. Ärzte diagnostizieren bei ihr eine Lungenkrankheit. Ihre Empfehlung: Kuraufenthalte.
Sie kommt auf den Geschmack von ausgedehnten Reisen und ist bis zu ihrem Lebensende oftmals fern vom Kaiserhof – wird aber von ihm mit einer jährlichen Apanage von
100 000 Gulden großzügig gesponsert. Ein zeitgenössischer Arbeiter hätte 500 Jahre für eine solche Summe schuften müssen.
Viel Raum im Kaiserinnen-Dasein nimmt ein bis zum Exzess entwickelter Körperkult ein. Er fängt bei den Haaren an, die ihr bis zu den Füßen reichen. Täglich soll sie drei Stunden für deren Pflege aufgewendet haben. Überliefert ist ihr Satz: „Ich bin Sklavin meiner Haare.“Wobei solche Pflegemaßnahmen damals in solchen Kreisen kein Alleinstellungsmerkmal sind.
Etwas anders sieht es mit Sport aus: Sisi reitet gut und gerne, sie ficht, sie macht weite Spaziergänge – und sie turnt intensiv. Zudem unterwirft sich die Frau zahlreichen Diäten. Zusammen mit dem Workout für heutige Hollywood-Queens ein tägliches Muss, wie Gesellschaftsnachrichten zu entnehmen ist. Seinerzeit aber höchst ungewöhnlich. Sisi bleibt jedenfalls gertenschlank – und offenbar nach dem Urteil von Zeitgenossen sehr ansehnlich. Sie sei die „schönste Frau Europas“, heißt es. Was insofern erstaunlich ist, weil das seinerzeitige Schönheitsideal eine gewisse Fülligkeit voraussetzte.
Mit der aufkommenden Bewegung der Frauenemanzipation hat all dies nichts zu tun – auch wenn ein heutiger Blick auf die Kaiserin so etwas gerne hätte. Die Geschichtswissenschaft sieht dies ablehnend wie nüchtern. Überliefert ist, dass sie sich bei Gelegenheit sogar über Frauenrechtlerinnen lustig gemacht hat. Ein fast vernichtender Spruch stammt dabei von der österreichischen Historikerin Katrin Unterreiner, die 2004 eine Biografie Sisis veröffentlich hat: „Sie war weder sozial noch politisch interessiert. Sie wollte ein bequemes, spleeniges, elitäres Leben führen.“Die Kaiserin habe nur für ihre „eigenen Interessen gelebt“.
Folgt man Unterreiners Biografie, wird ihre Rolle heutzutage völlig überschätzt. Der Rückzug ins Private hat demnach dazu geführt, dass sie abseits ihrer hohen Gesellschaftsschicht aus dem Bewusstsein des Volkes verschwunden ist. „Grundsätzlich muss man sagen, dass sich zu Lebzeiten kein Mensch für die Kaiserin Elisabeth interessiert hat“, lässt sich die Historikerin in einem Interview zitieren. Sie glaubt, ohne die Filme würde kein Mensch „mehr von ihr sprechen, weil sie ja historisch keine interessante Person war wie etwa die Kaiserin Maria Theresia“. Die sei ja von ihrer Bedeutung her ein ganz anderes Kaliber.
Maria Theresia gehört im 18. Jahrhundert zu den prägenden Monarchen Europas. Sie hat den Bestand des von den Preußen bedrängten Habsburger Reichs gesichert. Von Sisi ist nur eine politische Großtat bekannt. Sie soll Anregungen zum Ausgleich mit Ungarn gegeben haben. Der Hintergrund dazu: Als Franz Joseph Kaiser wird, gehört das Land zum Kaisertum Österreich. Es will aber mehr Eigenständigkeit. Rebellionen und Unruhen setzen sich fort. 1867 lenkt die kaiserliche Regierung ein.
Vereinbart wird, dass Ungarn künftig von Österreich innenpolitisch unabhängig ist. Das Reich bleibt aber nach außen hin bestehen. Dafür lässt sich Franz Joseph zum König von Ungarn krönen. Die K.-u.-k.-Doppelmonarchie Österreich-Ungarn ist entstanden. Ausgerechnet hier hat sich Sisi eingemischt. Sie scheint eine Schwäche für Ungarn gehabt zu haben. Schon zu ihren Lebzeiten wird gemunkelt, dies habe am Grafen Gyula Andrassy gelegen, einem stattlich anzusehenden ungarischen Rebellen. Nachdem er vom Kaiser amnestiert worden ist, lernt sie ihn 1866 kennen. Andrassy wird zum engsten Freund. Böse Zungen besagen, Sisis jüngste Tochter sei von ihm. Bewiesen ist nichts.
Die Gerüchte sind gut für
Klatsch, jedoch schlecht für Nachruhm. Nach dem tödlichen Attentat in Genf gilt das Mitleid dann auch eher Franz Joseph, der nebenbei betont, wie sehr er Sisi geliebt habe. Für die Person der Kaiserin prägt Graf Kielmansegg hingegen den Satz: „Es wurden ihr wenige Tränen nachgeweint.“Sie verschwindet tatsächlich vorerst im Dunkel der Geschichte. Albert Marguti, späterer Flügeladjudant seiner kaiserlichen Majestät, erinnert sich, selbst Franz Joseph habe ihm gegenüber nie die Kaiserin erwähnt. Dabei lebt der Monarch noch bis 1916.
Wieso erlebte Sisi dann später eine solch fulminante Wiederauferstehung? Eine Erklärung dafür liefert Historikerin Unterreiner. Sie geht davon aus, dass alles beginnt, als das Reich 1918 nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg aufhört zu existieren. Österreich als RestRumpf-Staat habe nach einer Identität abseits der deprimierenden Gegenwart gesucht. Eine der Fundstätten sei die Monarchie mit ihrer Strahlkraft gewesen. Geschichtsklitterung habe dabei mitgeholfen.
Ein Rückgriff auf Sisi bietet sich an, weil zumindest Verlobung und Heirat selbst in der wirklichen Welt noch sagenhaft klingen. 1920 gibt es den ersten Film über die Kaiserin. 1931 den nächsten. Ihn feiert die „Österreichische Film-Zeitung“folgendermaßen: „Eine versunkene Welt entsteht in diesem Film vor unseren Augen. Eine versunkene Welt des Glanzes, der Pracht und der Macht ...“Die laufenden Bilder wie auch auf den Markt geworfene Sisi-Romane strotzen von süßen Liebesgeschichten und allerlei Klischees der angeblich so schönen guten alten Zeit, in welcher alles geordnet erscheint.
Die Beschreibung passt natürlich ebenso auf die Heimatfilme der 1950er-Jahre – in Österreich und Deutschland abermals Ablenkungswerke nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Auch Marischkas Trilogie mit Romy Schneider bietet eine Flucht aus den zerbombten Städten. Sisi wird praktisch zum Trösterlein der Besiegten – und zur Ikone abseits von Zeit und Raum.