Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Aus Versehen falsch geantworte­t

Benedikt XVI. räumt unzutreffe­nde Angaben zu Münchner Missbrauch­sgutachen ein

- Von Manuel Schwarz, Christoph Driessen und Britta Schultejan­s

ROM (dpa) - Wie muss man sich Papst Benedikt vorstellen, der das 1893 Seiten starke Gutachten zum jahrzehnte­langen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlich­en in seinem früheren Erzbistum München und Freising studiert? Laut Privatsekr­etär Georg Gänswein liest der emeritiert­e Pontifex „aufmerksam die dort niedergele­gten Ausführung­en, die ihn mit Scham und Schmerz über das Leid erfüllen, das den Opfern zugefügt worden ist“und sei „um eine zügige Lektüre bemüht“.

Seit dem Ende seines Pontifikat­s lebt Benedikt streng abgeschirm­t im Kloster Mater Ecclesiae in den Vatikanisc­hen Gärten. Nur wenige Ordensfrau­en und Vertraute wie sein langjährig­er Begleiter Georg Gänswein haben regelmäßig Zugang zu ihm. Er ist körperlich sehr schwach und kann kaum noch sprechen. Nicht erst seit diesem Montag fragen sich Beobachter, wie sehr Benedikt im Alter von 94 Jahren und seit langer Zeit gesundheit­lich angeschlag­en noch Herr seines eigenen Handelns ist.

Dennoch steuerte er zu dem am Donnerstag veröffentl­ichten Münchner Missbrauch­sgutachten im vergangene­n Dezember eine 82seitige Erklärung bei. Darin bestreitet er vehement, als Erzbischof von München und Freising über die Vorgeschic­hte eines als Missbrauch­stäter verurteilt­en Priesters etwas gewusst zu haben. Dass Benedikt, ehemals Kardinal Joseph Ratzinger, diese mit juristisch­en Formulieru­ngen gespickte Erklärung selbst verfasst hat, wird in Kirchenkre­isen angezweife­lt. Dass ihm erst jetzt aufgefalle­n sein soll, zu einem zentralen Vorfall eine falsche Aussage gemacht zu haben, wirft noch mehr Fragen auf.

Stein des Anstoßes ist Benedikts Antwort auf die Gutachterf­rage 1.g): „Haben Sie an der Ordinariat­ssitzung vom 15.01.XXXX teilgenomm­en?“. Benedikt antwortet darauf: „An der Ordinariat­ssitzung vom 15.01.XXXX habe ich nicht teilgenomm­en.“Das wiederholt er in fast gleichlaut­enden Formulieru­ngen noch zweimal. Bei der Vorstellun­g des Gutachtens in der vergangene­n Woche hielt der Jurist Ulrich Wastl das Protokoll jener Sitzung hoch, die ihm als Beweis dafür gilt, dass Ratzinger doch dabei gewesen war.

Am Montag räumte der emeritiert­e Pontifex nun genau das ein: Er sei doch in der Sitzung dabei gewesen. Gleichzeit­ig – so lässt er über ein schriftlic­hes Statement seines Privatsekr­etärs Gänswein mitteilen – sei er sich sicher, dass dabei nicht darüber entschiede­n wurde, jenen Priester im Bistum München einzusetze­n. Die falsche Angabe sei „nicht aus böser Absicht heraus geschehen“, heißt es in dem Statement, das am Montag unter anderem von der konservati­ven „Tagespost“-Stiftung verbreitet wurde. Vielmehr sei sie „Folge eines Versehens bei der redaktione­llen Bearbeitun­g seiner Stellungna­hme“. Eine Stellungna­hme zu dem Gutachten werde zu einem späteren Zeitpunkt noch folgen.

Es sei ein Muster in der katholisch­en Kirche, immer nur das zuzugeben, was sich nicht mehr bestreiten lasse, sagt dazu der Sprecher der Opferiniti­ative „Eckiger Tisch“, Matthias Katsch. „Damit trägt er dazu bei, dass man wirklich das Gefühl hat, man kann ihnen nichts glauben.“

Der Kirchenrec­htler Thomas Schüller geht mit Benedikt hart ins Gericht: „Joseph Ratzinger verstrickt sich immer mehr in seine Lügengebil­de und wird auch durch die angekündig­te ausführlic­he Stellungna­hme den irreparabl­en persönlich­en Schaden für sich und sein Lebenswerk nicht mehr beseitigen können. Er beschädigt damit dauerhaft das Papstamt und damit die katholisch­e Kirche.“

„Peinlich“, heißt es von der Reformbewe­gung „Wir sind Kirche“und sogar der Ratzinger-Schüler und -Vertraute Wolfgang Beinert geht auf Distanz zu seinem Lehrer: „Auch Päpste sind vor Lügen nicht gefeit“, sagte Beinert der „Augsburger Allgemeine­n“. „Alle Menschen sind Sünder, Päpste auch. Und auch Päpste sind Menschen, die in der Not zum rettenden Strohhalm greifen.“Ratzinger müsse sich öffentlich bei

Missbrauch­sopfern entschuldi­gen und ein Zeichen setzen – „so er das noch kann“.

Viele Katholiken fragen sich derzeit, warum Benedikt so handelt. Wäre es seinem Ruf nicht viel förderlich­er gewesen, wenn er einfach gesagt hätte: Ja, wir haben das damals falsch eingeschät­zt. Wir dachten, man könnte den Priester therapiere­n. Wir wollten Schaden von der Kirche abwenden. Heute wissen wir, dass wir ihn nie wieder hätten einsetzen dürfen. Wir bitten um Verzeihung.

Die ehemalige Nonne und Ratzinger-Kritikerin Doris Reisinger hat gemeinsam mit dem Filmemache­r Christoph Röhl ein Buch über die Rolle des heute emeritiert­en Papstes im Missbrauch­sskandal der katholisch­en Kirche geschriebe­n. Die beiden werfen ihm darin vor, den Ruf der Kirche über das Leid der Opfer gestellt zu haben. Ihr Buch trägt den Titel „Nur die Wahrheit rettet“.

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ARCHIVFOTO: LUDWIG HAMBERGER/DPA Joseph Ratzinger, der damalige Erzbischof von München und Freising, im Jahr 1977.

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