Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
„Früher hat man nur die Toten gezählt“
Medizinhistoriker Fangerau über den Umgang mit Pandemien in der Geschichte
BERLIN - Omikron weckt die Hoffnung auf ein Ende der Pandemie im Laufe des Jahres. Heiner Fangerau (Foto: UKD Düsseldorf), Medizinhistoriker an der Uniklinik Düsseldorf, erklärt, wie Pandemien früher zu Ende gegangen sind und welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede es im gesellschaftlichen Umgang mit ihnen gab.
Zahlreiche Experten sehen in den vielen Neuinfektionen durch die Omikron-Variante bei weniger schweren Verläufen den Übergang in die endemische Phase – weil sie zu einer Grundimmunität in der Bevölkerung führen. Überrascht Sie diese Entwicklung?
Nein. Wir kennen aus der Geschichte Vergleichsfälle, in denen Pandemien in Wellen kommen – und danach versterben die Menschen nicht mehr an der entsprechenden Krankheit. Ein Beispiel sind die drei Wellen der Spanischen Grippe. Nach der dritten Welle gab es eine verbreitete Immunität. Allerdings ist es heute neu, dass uns Tests zur Verfügung stehen und wir durch sie auf die Zahl der Infektionen schauen. In früheren Pandemien hat man nur die Todesfälle gezählt.
Die Pest wütete allerdings über Jahrzehnte hinweg.
Mit heutigem Wissen hätten wir die Pest vermutlich zwar schneller in den Griff bekommen, Seuchengeschehen sind aber immer ein Zusammenwirken aus Kultur und Natur. Hygienemaßnahmen und biologische Immunität wirken zusammen. Man muss aufpassen, die Vergangenheit nicht aus der Brille der Gegenwart zu betrachten. Die bittere Pointe der Covid-19-Pandemie ist ja, dass wir trotz all unseres modernen Wissens so überrascht worden sind.
Wurden Pandemien in der Vergangenheit vergleichbar intensiv medial begleitet und als politischer Fokus wahrgenommen?
Ja und nein. Ja, denn sonst würden wir heutzutage gar nicht von ihnen wissen. Wir lernen über die Auswirkungen von Seuchen auf die Gesellschaft über Berichte in Zeitungen, Karikaturen und Romane. Neu sind die sozialen Medien, die Menge und Geschwindigkeit der medialen Begleitung und politischen Aktion extrem beeinflussen.
Wie sind die Gesellschaften früher mit Infizierten umgegangen?
Es war ein Spiel zwischen Eingrenzung und Ausgrenzung. Während der Pest wurden die Häuser der Infizierten markiert, die Menschen wurden ausgegrenzt. Leprakranke wiederum mussten Klappern tragen, um andere Menschen zu warnen. Allerdings gab es für sie auch spezielle Almosen – Leprakranke hatten das Privileg, betteln zu dürfen. Was bis heute gleich ist: Ärmere Menschen waren in allen Pandemien gefährdeter als reiche. Die Lebens- und Wohnverhältnisse haben immer eine Rolle gespielt.
Und die Toten?
Sie wurden auch früher beklagt. Aber der Blick auf den Tod war ein anderer als heute, was auch mit der Religion zu tun hat. Die Bereitschaft, die Seuche und den Tod als Gottes Willen zu betrachten, war deutlich größer. Dass wir als Gesellschaft uns heute um alle Erkrankten und ihr Überleben bemühen, kann man optimistisch als gesellschaftlichen Fortschritt sehen.
Abstand halten und das Gesicht bedecken sind uralte Methoden gegen hochansteckende Krankheiten. Lässt sich sagen, welchen Einfluss das auf Gesellschaften hatte, die eine Pandemie durchlebt haben?
Da gibt es sehr schöne Gedichte, Karikaturen und Romane, z. B. aus Zeiten der Spanischen Grippe, die den heutigen Debatten sehr ähneln. Die
Sinnhaftigkeit von Abstand halten, Kulturveranstaltungen verbieten oder Masken etwa wurde gleichzeitig propagiert und infrage gestellt, auch im Nachgang.
Das übergeordnete politische Ziel der aktuellen Pandemiebekämpfung war es, die Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. War das schon immer so? Das ist ein relativ neues Phänomen. Früher ging es mehr um allgemeine Infrastrukturen, heute um das Gesundheitswesen. Während der Spanischen Grippe stand die Zensur im Vordergrund. Eine Schweizer Karikatur von 1918 zeigt einen deutschen Soldaten, der dem Major berichtet, dass wieder zwei Grippesimulanten gestorben seien. Über die Hongkong-Grippe Ende der 1960er-Jahre schrieb der Spiegel zwar von voll belegten Krankenstationen und sozialer Ungleichheit, aber eine Überlastung des Gesundheitssystems als Ganzes wurde nicht angesprochen.