Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Corona bringt viele Prostituierte in Existenznot
Streetworkerinnen beobachten die Szene: Wegen der Pandemie arbeiten viele Frauen illegal
RAVENSBURG - Corona lässt die Geschäfte einbrechen: Nachdem Bordelle im ersten Lockdown dicht machen mussten, dürfen Prostituierte zwar wieder arbeiten. Doch nach wie vor bleiben viele Freier weg – wohl, weil sie nicht wollen, dass ihnen ihre Ehefrauen über eine mögliche Nachverfolgung auf die Schliche kommen. Um zu überleben, machen viele Prostituierte illegal weiter – mit ungeimpften, ungetesteten Kunden und ohne Security im Hintergrund. Andere Frauen sind durch die Pandemie mittel- und wohnungslos geworden, manche sind bei Freiern untergekommen. Zwei Streetworkerinnen versuchen, die rund 80 in Ravensburg gemeldeten Prostituierten zu unterstützen. Doch es ist gar nicht so einfach, an die Frauen ranzukommen.
Dabei ist es das kleinere Problem, sie ausfindig zu machen: Seit einem Jahr durchstöbert Jasmin Gmünder im Rahmen des bei der Arkade angesiedelten und vom Sozialministerium finanzierten Projektes Misa (Streetwork mit Menschen in der Sexarbeit und Prostitution) das Internet nach Etablissements und nimmt dann, oft auch online oder übers Mobiltelefon, Kontakt zu den Frauen auf. Oder sie klingelt einfach an der Tür von Bordell, Club, Laufhaus, Lovemobil oder Privat- oder Ferienwohnung. Manche Damen machen auch Haus- oder Hotelbesuche oder werden über einen EscortService vermittelt.
Die wenigsten reagieren begeistert auf diesen unangekündigten Besuch. „Manchmal muss ich mich fast aufdrängen“, sagt Gmünder. Immer wieder hat sie die Erfahrung gemacht, dass die Frauen darauf getrimmt sind, es alleine schaffen zu müssen. Abgesehen vom Misstrauen ist da Scham. Und die Angst, stigmatisiert und angefeindet zu werden. „Prostitution ist in unserer Gesellschaft immer noch ein Tabu“, bestätigt Teamleiterin Dörte Christensen, bei der Arkade zuständig für aufsuchende Sozialarbeit und Streetwork mit Menschen in der Prostitution. Trotzdem ist Gmünder, die im vergangenen Jahr mit 60 der rund 80 in Ravensburg gemeldeten Frauen in Verbindung kam, sicher: „Der Bedarf ist da.“
Zunächst hat sie Prostituierten dabei geholfen, Anträge auf Soforthilfe für Selbstständige zu stellen, und die Arkade sammelte und verteilte Spenden. Gemeinsam mit Elisabeth
Sittner, die im November 2021 dazukam, geben die Streetworkerinnen auch Hilfestellung, wenn es etwa um sozialrechtliche Fragen, die Steuererklärung, den Kontakt zu Behörden oder Gynäkologinnen geht. Sittner kümmert sich vor allem um Frauen, die aus dem Milieu aussteigen wollen.
Das wollen aber die meisten gar nicht. Aus unterschiedlichen Gründen: Christensens Erfahrung nach haben sich viele Prostituierte von ihren eigenen Gefühlen abgeschnitten, sind also traumatisiert. Wer in der Kindheit sexuellen Missbrauch und Übergriffe etwa durch einen Onkel oder den Vater erlebt habe, resigniere oft: „Diese Frauen denken dann häufig, ich kann eh nichts dagegen machen, und wenn ich sowieso Gewalt erfahre, kann ich auch gleich Geld damit verdienen.“Selbst wenn noch so viele Prostituierte – wie etwa die Studentin, die mit ihrem Nebenjob locker 500 Euro pro Tag verdient – denken, sie machen das Ganze freiwillig, bezweifelt Christensen das: „In Wirklichkeit stecken die Frauen psychisch drin und kommen nicht
Dörte Christensen,
Arkade e.V. raus.“Umso weniger, je länger sie anschaffen gehen.
Auch Drogen, Perspektivlosigkeit, geringe Bildung, Verschuldung, Obdachlosigkeit, der Druck, ihre Kinder zu versorgen oder Kontrolle durch Brüder oder Zuhälter spielen eine Rolle dabei, dass viele Frauen so schwer aus der Prostitution raus finden. Häufiges Szenario insbesondere bei den Prostituierten aus Osteuropa sei außerdem: Ein Familienmitglied bringe eine Frau nach Deutschland, „wo sie weder die Sprache kann noch ihre Rechte kennt“, so Christensen. Ihrer Einschätzung nach kommt gut die Hälfte der Ravensburger Prostituierten aus Osteuropa, weitere 30 Prozent sind aus Afrika, der Rest aus Asien, Deutschland und dem westeuropäischen Ausland.
Trotzdem lassen die Streetworkerinnen sich weder entmutigen noch abspeisen und stehen immer wieder mit Weihnachtskeksen, einer Geschenkbox mit Dusch- und Gleitgel sowie ihren Kontaktdaten drin und immer mit einem Versprechen vor der Tür: „Wir beraten anonym, akzeptierend, wertschätzend, kostenlos und ergebnisoffen und machen ein bedingungsloses Beziehungsangebot“, sagt Sittner.
Bis sich eine Frau tatsächlich darauf einlässt, kann es dauern. Insbesondere die Frauen aus Osteuropa und Afrika fassen schwer Vertrauen, weil sie laut Gmünder so sehr an Korruption und Bestechung gewöhnt sind. Da braucht es viele Besuche, Gespräche, Spaziergänge; häufig führe der Weg zunächst über Persönlichkeitsstärkung, erläutert Gmünder. „Bis jemand realisiert und sich selbst eingesteht: ,Der Job macht mich kaputt’ können Jahre vergehen“, weiß Christensen.
Doch es kommt vor. Etwa bei der 46-Jährigen, die laut Gmünder „mal ein krasses Drogenproblem“und daher einen Berg voller Schulden hatte. Nach vielen Treffen wagte die Frau sich mit der Streetworkerin schließlich zur Schuldnerberatung und beantragte Privatinsolvenz. Nun schreiben die beiden gemeinsam Bewerbungen, damit die 46-Jährige aus der Prostitution raus und in ihren alten Beruf zurück kann. Erst eine Trauma-Therapie hatte ihr ins Bewusstsein gebracht, „wie scheiße anstrengend der Job ist und sie ständig an ihre körperlichen und psychischen Grenzen bringt“, weiß Gmünder.
Dennoch trauen sich die Frauen in der Regel nicht, einen Freier, der gewalttätig wird, anzuzeigen – zu groß ist die Angst, Kunden zu verlieren. Denn die Freier tauschen sich über entsprechende Foren aus, wie
Christensen erläutert. „Da gibt es ein extremes Machtungleichgewicht.“Weiteres Problem: Im Gegensatz etwa zu Berlin gibt es im Landkreis Ravensburg keine Wohnungen für Frauen, die aussteigen wollen. Sie stecken daher oft in einem Teufelskreis fest, denn für ihre Bleibe, respektive ihren Arbeitsplatz, zahlen die Prostituierten häufig hohe (gewerbliche) Mieten.
„Diese Frauen denken dann häufig, ich kann
eh nichts dagegen machen, und wenn ich
sowieso Gewalt erfahre, kann ich auch gleich Geld damit
verdienen.“
Die vom Sozialministerium geförderten Streetworkstellen laufen Ende 2022 aus. Da diese Art der Unterstützung auch unabhängig von der Corona-Pandemie gebraucht werde, hofft Dörte Christensen, dass Stadt und Landkreis Ravensburg in die Finanzierung einsteigen werden. Die Stadt Friedrichshafen tut das schon länger: Dort kümmern sich seit 2014 zwei Streetworkerinnen um die rund 270 in Friedrichshafen gemeldeten Prostituierten.
„Bis jemand realisiert
und sich selbst eingesteht: ,Der Job macht mich kaputt’ können Jahre
vergehen.“
Dörte Christensen,
Arkade e.V.