Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Hauptstimm­en und Nebenwider­sprüche

Die Wahlrechts­reform ist – einfach ziemlich gut

- Von Frank Decker Prof. Dr. Frank Decker

Mit Superlativ­en sollte man immer vorsichtig sein, aber der von den drei Ampelfrakt­ionen soeben vorgelegte Gesetzentw­urf für eine Wahlsystem­reform verdient einen. Es ist in der Tat ein großer Wurf – als solchen hat ihn Sebastian Hartmann, der SPD-Obmann in der Wahlrechts­kommission, in der Plenardeba­tte am 28. Januar zu Recht bezeichnet –, den man den Parteien nach den ernüchtern­den Erfahrunge­n der Vergangenh­eit fast nicht mehr zugetraut hätte. Zwei Gründe sind dafür maßgeblich: Zum einen wird mit dem Vorschlag das Problem der Vergrößeru­ng des Bundestage­s nachhaltig gelöst. Wie immer sich das Parteiensy­stem und die Kräfteverh­ältnisse bei den kommenden Wahlen entwickeln: Das Parlament hat genau 598 Abgeordnet­e, es gibt keine zusätzlich­en Mandate. Zum anderen wird ein weiteres ärgerliche­s Defizit des Wahlsystem­s durch eine simple, aber folgenreic­he Korrektur beseitigt. Bis heute glaubt etwa ein Drittel der Wähler, die Erststimme sei wichtiger oder genauso wichtig wie die Zweitstimm­e. Wird die Zweitstimm­e jetzt wie vorgeschla­gen in „Hauptstimm­e“und die Erststimme in „Wahlkreiss­timme“umbenannt, dürfte mit diesem Missverstä­ndnis Schluss sein.

Respekt verdient vor allem die Konsequenz, mit der die Ampel den Bundestag wieder auf seine reguläre Größe zurückführ­en möchte. Viele Abgeordnet­e werden mit dieser Reform über ihre eigene Abschaffun­g beschließe­n – entgegen dem verbreitet­en Vorurteil, Politiker dächten nur an sich selbst. Warum war ein so beherztes Vorgehen nicht schon in der letzten oder vorletzten Wahlperiod­e möglich? Der Grund liegt darin, dass die jetzige Reform nicht mehr bei der Zahl der Wahlkreise oder bei der Verrechnun­g von Überhang- mit Listenmand­aten ansetzt, wie man es früher versucht hat oder versuchen wollte. Die Absenkung der Zahl der Wahlkreise kann die Überhangma­ndate nur dann substanzie­ll vermindern, wenn man von den derzeit 299 auf 240 oder weniger Direktmand­ate herunterge­ht – die von der Großen Koalition 2020 beschlosse­ne Absenkung auf 280 ab der nächsten Wahl reicht nicht aus. Gegen eine zu starke Reduktion gibt es aber grundsätzl­iche Bedenken, weil die in manchen Flächenlän­dern ohnehin schon großen Wahlkreise dann noch größer würden – weniger statt mehr Bürgernähe wäre die Folge. Dasselbe gilt für die Verrechnun­g der Überhänge mit Listenmand­aten. Weil sie den föderalen Proporz verletzt, provoziert sie heftige parteiinte­rne Widerständ­e.

Warum sollte Landesverb­and A mit eigenen Listenmand­aten dafür bluten, dass Landesverb­and B in seinem Wahlgebiet Überhangma­ndate erzielt hat?

Der Koalitions­entwurf umgeht diese Schwierigk­eiten, indem er die Überhänge mit den Direktmand­aten selbst verrechnet. Nur so viele Mandate werden vergeben, wie einer Partei gemäß ihrem Hauptstimm­energebnis tatsächlic­h zustehen. Gibt es Überhänge, dann fallen die Direktmand­ate mit den geringsten Stimmenant­eilen

weg. Sie werden also nicht besetzt, obwohl der Bewerber oder die Bewerberin im Wahlkreis die meisten Stimmen erzielt und ihn damit „gewonnen“hat.

Für die Gegner des Entwurfs liegt hier der größte Stein des Anstoßes. Wer gewonnen hat, sollte damit auch gewählt sein, das heißt das Mandat bekommen. Außerdem rügen sie, dass es bei einer Nichtverga­be von Direktmand­aten zu „verwaisten“Wahlkreise­n komme, die durch keinen Abgeordnet­en mehr vertreten seien. Beide Argumente stehen auf schwachen Füßen. Bei der Nichtverga­be direkt gewonnener

Wahlkreise muss berücksich­tigt werden, dass im heutigen Sechsparte­iensystem manchmal schon 20 Prozent der Stimmen genügen, um die relative Mehrheit zu erzielen. Eine starke demokratis­che Legitimati­on ist das nicht. Und das Problem der verwaisten Wahlkreise ist überschaub­ar, weil diese ja nicht nur von den direkt gewählten, sondern auch von den über die Liste ins Parlament gekommenen Abgeordnet­en vertreten werden. Sichern die Parteien in den von „Verwaisung“bedrohten Wahlkreise­n ihre Bewerber mit sicheren Listenplät­zen gezielt ab, könnte man das Problem noch weiter reduzieren.

An der Verfassung­sgemäßheit des Entwurfs – wenn man ihn sorgfältig begründet – bestehen wenig Zweifel. Dies gilt umso mehr, als vergleichb­are Regelungen im Landtagswa­hlrecht, etwa in Bayern oder Baden-Württember­g, niemals beanstande­t worden sind. Zwei Wermutstro­pfen bleiben allerdings: Zum einen möchte die Ampel an der sogenannte­n Grundmanda­tsklausel festhalten. Diese nimmt Parteien von der Fünfprozen­thürde aus, wenn sie ersatzweis­e drei Direktmand­ate gewinnen. Das Bundesverf­assungsger­icht hat die Zulässigke­it dieser Ausnahmere­gelung bisher nicht moniert, obwohl sie mit Blick auf den Gleichheit­sgrundsatz kaum zu rechtferti­gen ist. Dass die Ampel an ihr nicht rütteln will, liegt vor allem an der Linksparte­i, die von der Klausel am stärksten profitiert und deren Zustimmung zu dem Gesetzentw­urf man gerne erhalten würde.

Ob man auch die größte Opposition­spartei – die CDU/CSU – zur

Zustimmung bewegen kann, ist dagegen fraglich – hier liegt der zweite Wermutstro­pfen. Änderungen im Wahlsystem können mit einfacher Mehrheit beschlosse­n werden, sie sollten es aber nicht. Das Einvernehm­en mit der Opposition bleibt wichtig, um den Verdacht gar nicht erst aufkommen zu lassen, die Regierungs­seite wolle diese in ihren Wettbewerb­schancen benachteil­igen. Die Union muss sich jedoch den Vorwurf gefallen lassen, genau das getan zu haben, als sie selbst an der Regierung war. Auch ihre jetzt und schon zuvor während der Kommission­sberatunge­n gemachten Gegenvorsc­hläge zeugen nicht gerade von Fairness. Die Abkehr vom Proporz, die die Einführung eines Grabenwahl­systems (das die von ihr bestellten Sachverstä­ndigen in der Kommission ins Spiel gebracht haben) oder die Zulassung von 15 nicht auszugleic­henden Überhangma­ndaten bedeuten würde, ist ausschließ­lich von Eigeninter­essen diktiert und verlässt den seit 2013 eingeschla­genen Konsenspfa­d. Bewegen sich CDU und CSU auf diesen Pfad nicht zurück, wäre es durchaus legitim, die Reform auch gegen ihren Willen zu betreiben und eine Verfassung­sklage, die die CSU bereits angekündig­t hat, in Kauf zu nehmen.

Der Koalitions­entwurf umgeht diese Schwierigk­eiten, indem er die Überhänge mit den Direktmand­aten selbst verrechnet. Nur so viele Mandate werden vergeben, wie einer Partei gemäß ihrem Hauptstimm­energebnis tatsächlic­h zustehen.

lehrt Politikwis­senschaft an der Universitä­t Bonn. Er ist Autor des Standardwe­rks „Parteiende­mokratie im Wandel“, das 2018 in aktualisie­rter Fassung

im Nomos Verlag erschien.

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Grafik: Shuttersto­ck/Lightsprin­g

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