Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Unwiderstehliche Kalorienbomben
Studien zeigen, warum wir nicht von Snacks wie Chips und Schokoriegeln lassen können – Eine „Ersatztherapie“hat größere Chancen als der knallharte Entzug
Es ist zehn Uhr, Zeit fürs zweite Frühstück. Es gibt Tee – und dazu ein Croissant oder einen Riegel Schokolade. Und manchmal auch einen zweiten. Am Nachmittag zur Kaffeepause dann das gleiche Spiel, diesmal mit ein paar Keksen. Zwischenmahlzeiten – auch „Snacking“genannt – gehören zum Alltag. Wie weit verbreitet sie sind, und welche Folgen das auf unser sonstiges Ernährungsverhalten und Körpergewicht hat, belegt jetzt eine Studie aus England.
Das Forscherteam um Sarah Berry vom King’s College in London analysierte die Ernährungsgewohnheiten sowie das Körpergewicht, den Fettanteil und die Blutfettspiegel von 854 englischen Männern und Frauen. Es zeigte sich, dass 95 Prozent mindestens einen Snack pro Tag verputzten, und bei knapp einem Drittel waren es sogar mehr als zwei. „Insgesamt bezogen die Probanden fast ein Viertel ihrer Kalorien aus Snacks wie Müsliriegeln, Gebäck, Nüssen und Obst“, bilanziert Ernährungswissenschaftlern Berry. Wobei sie betont, dass dies nicht zwangsläufig ungesund sein muss. Denn nicht das Snacking an sich sei ungesund, sondern die mangelhafte Qualität der Nahrungsmittel, die dabei oft verzehrt werden.
So zeigte sich in der Studie: Wer Nüsse und frisches Obst zu sich nahm, hatte mit größerer Wahrscheinlichkeit ein gesundes Gewicht und bessere Stoffwechselwerte als Personen, die überhaupt nicht naschten oder ungesunde Lebensmittel als Snack verzehrten. Umgekehrt fand man bei Liebhabern von stark verarbeiteten und zuckerhaltigen Snacks eher einen ausgeprägten Appetit und höheren Body-MassIndex (BMI) sowie mehr Fettmasse und höhere Blutfettwerte, die als großes Risiko für Herz und Kreislauf gelten. Und das galt auch für jene, die überwiegend am Abend, nach 21 Uhr naschten. Als Ursache dafür nennt Berry, dass zu dieser Zeit vor allem kalorienund fettreiche Snacks auf den (Fernseh-)Tisch kommen, wie etwa Kartoffelchips oder Erdnussf lips.
Insgesamt bescheinigt die englische Ernährungswissenschaftlerin ihren Landsleuten, ein „Volk von Snackern“zu sein. Und Gudrun Sproesser von der Johannes Keppler Universität in Linz kann aus ihrer Forschung bestätigen, dass auch hierzulande „die meisten Leute mindestens einmal pro Tag snacken“. Meistens geschehe das zu bestimmten Tageszeiten, nämlich um zehn, 13 und 16 Uhr. Wobei morgens eher Früchte und nachmittags Süßigkeiten zum Einsatz kommen. „Dass eine bestimmte Person nur Gesundes oder aber Ungesundes snackt, haben wir selten gefunden“, so die Gesundheitspsychologin. „Die meisten machen beides.“Aber sie hätten schon eine Präferenz in die eine oder andere Richtung.
Bleibt die Frage, warum so viele Menschen immer wieder zu ungesunden Snacks greifen. In der englischen Studie zeigte sich, dass sich zwar jeder vierte Proband bei den Hauptmahlzeiten gesund ernährte, bei Snacks aber fett- und zuckerreiche Kalorienbomben
bevorzugte. Dies spricht dafür, dass Zwischenmahlzeiten oft als Belohnung betrachtet werden und umgekehrt das ansonsten gesunde Ernährungsverhalten als, wie Sproesser es ausdrückt, „Lizenz für ungesunde Snacks“gesehen wird. Nach dem Muster: „Wenn ich schon den Salat zum Mittag hatte, kann ich mir den Kuchen gönnen.“
Eine weitere Erklärung für unsere Vorliebe für ungesunde
Snacks liegt aber auch in deren Zusammensetzung. Ein Forscherteam um Monika Pischetsrieder von der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen verköstigte Ratten entweder mit normalem Rattenfutter oder aber mit einem Futter, dessen Zucker und Fette in einem wechselnden Mengenverhältnis vermischt waren. Das Ergebnis: Bestand das Futter aus 50 Prozent Kohlenhydraten und 35 Prozent Fett, so wie es bei Kartoffelchips, Erdnussflips, Schokolade und Nuss-Nougat-Creme der Fall ist, fraßen die Tiere innerhalb kürzester Zeit am meisten. „Sie deckten dann innerhalb von 30 Minuten die Hälfte ihrer täglichen Kalorienaufnahme“, berichtet Pischetsrieder. Auffallend war außerdem, dass die Nager, obwohl eigentlich nachtaktiv, auch tagsüber naschten. Sie konnten also einfach nicht davon lassen.
Dass ausgerechnet der 50-35Zucker-Fett-Mix so verlockend ist, hat vermutlich evolutionäre Gründe. „Er liefert den optimalen Mix aus schnell verfügbaren und nachhaltigen Energien“, so Pischetsrieder. Mehr Zucker würde zwar schneller, aber dafür nicht so lange, und mehr Fett würde zwar länger, aber dafür nicht so schnell Energie liefern. Der Geschmacksverstärker Glutamat, der bekanntermaßen gelegentlich den Chips beigemischt wird, scheint hingegen kaum eine Rolle zu spielen. Die Erlanger Forscher haben ihn in ihren Versuchen nicht als zusätzlichen Appetitverstärker ausmachen können. „Es ist in erster Linie der 50-35-Mix, der uns die Tüte leer machen lässt“, betont Pischetsrieder.
Nun zeigt aber die alltägliche Beobachtung, dass es durchaus Menschen gibt, die ganz oder zumindest teilweise immun gegen das Snacking sind. Und das bestätigt ja auch Sarah Berry’s Beobachtung, wonach immerhin fünf Prozent komplett ohne und zwei Drittel mit weniger als zwei Zwischenmahlzeiten auskommen. Woran liegt das? Gibt es eine Veranlagung zum Snacken, also mehr oder weniger starke Snacker-Persönlichkeiten?
Der Einfluss des Lernens scheint wohl größer zu sein, wie man am Kölner Max-Planck-Institut für Stoffwechselforschung festgestellt hat. Das Forscherteam um Sharmili Thanarajah ließ eine 26-köpfige Probandengruppe acht Wochen lang täglich zu ihrer normalen Kost einen zuckerund fettreichen Joghurt konsumieren, während 23 Kontrollprobanden einen kaloriengleichen Joghurt mit etwas weniger Zucker und deutlich weniger Fett konsumierten. Bei Messungen der Hirnaktivitäten vor und während der Studie zeigte sich: Die zucker- und fettreichen Snacks führten bei jedem ihrer Konsumenten zu einer regelrechten Neuverdrahtung des Gehirns. „Es hat gelernt, Essen mit starkem Belohnungseffekt zu bevorzugen“, erläutert Thanarajah. „Und durch diese Veränderungen im Gehirn werden wir unbewusst immer die Lebensmittel bevorzugen, die viel Fett und Zucker enthalten.“
Gesunde Zwischenmahlzeiten haben hingegen kaum noch eine Chance. Ungesundes Snack-Verhalten hat also die verhängnisvolle Eigenschaft, sich selbst zu verstärken: Prinzipiell kann jeder zum ungesunden Snacker werden, sofern er die entsprechenden Lernreize bekommt. Erlerntes kann natürlich auch wieder verlernt werden. Allerdings geschieht das alles auf unbewusster Ebene und ist willentlich nur schwer zu beeinflussen. Der rationale Beschluss: „Heute bleibt die Chipstüte zu“wird nur schwer durchzusetzen sein. Doch was bleibt als Alternative?
Am besten wäre natürlich, man wird erst gar nicht zum ungesunden Snacker. „Schon Kinder sollten möglichst früh an gesunde Snacks wie etwa geschnittenes Obst herangeführt werden“, betont Sproesser. Für gestandene Chips- oder Kuchenesser kommt das freilich zu spät, für sie bleibt der knallharte Entzug, dass man also jegliche ungesunde Snacks aus dem Büro oder Haushalt verbannt. Oder aber die weniger brutale Ersatzmethode. „Denn es zeigt sich immer wieder“, so die österreichische Psychologin, „dass es den Menschen einfacher fällt, etwas zu ersetzen, als etwas ganz wegzulassen.“
Wem also beim Nachmittagskaffee immer wieder die Lust auf einen Snack heimsucht, sollte den Keks oder das Schokostück gegen etwas anderes eintauschen. Idealerweise wäre das ein Stück Obst, aber das wird vom Snack-Junkie wohl eher nicht als Ersatz akzeptiert. Besser: ein paar Stücke Fruchtgummi. Die sind ähnlich süß wie Schokolade und Kuchen, aber nicht annähernd so kalorienreich. Und sie erzeugen wegen ihres fehlenden Fetts auch nicht einen so starken Reiz auf das Belohnungszentrum im Gehirn, sodass es auf Dauer möglicherweise auch ohne Fruchtgummi geht.
’’ Es ist in erster Linie der 50-35-Mix, der uns die Tüte leer machen lässt. Monika Pischetsrieder, Forscherin der Uni Erlangen über das bevorzugte Zucker-Fett-Verhältnis.