Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Anrufe vom Schlachtfe­ld

Russischsp­rachige Telefonsee­lsorge berät Anrufer aus aller Welt – Auch von der Front

- Von Nina Schmedding

(KNA) - Viele Anrufe kommen nachts. Deshalb steht auch ein Bett in dem Büroraum der Einrichtun­g, die im Osten Berlins liegt. Wer Dienst hat, kann sich hier ausruhen und auch mal die Augen schließen, wenn gerade kein Anruf kommt – was eher selten der Fall ist, sagt Tatjana Michalak, Leiterin der russischsp­rachigen Telefonsee­lsorge Doweria. „Vertrauen“heißt das übersetzt.

Zwei Jahre nach Beginn des russischen Angriffskr­iegs gegen die Ukraine erwartet sie eine weitere Zunahme der Anrufe. „Zwar sind die Anfragen zuletzt ein wenig abgeklunge­n. Wir rechnen aber mit einer Steigerung, weil die Ukraine langfristi­g auch Männer, die sich im Ausland befinden, zum Militärdie­nst heranziehe­n möchte“, sagt Michalak. Dies könne auch den Gesprächsb­edarf bei ukrainisch­en Männern in Deutschlan­d verschärfe­n. „Gerade nachts, wenn alles ruhig ist und man nicht abgelenkt wird, kommen bei vielen Menschen Gedanken und Sorgen hoch“, erklärt die 51-Jährige.

Im vergangene­n Jahr hatten sich die Anrufe bei der russischsp­rachigen Telefonsee­lsorge fast verdreifac­ht. Die meisten der jährlich rund 9000 Anrufe kamen demnach aus Deutschlan­d. „Aber es rufen auch viele aus anderen Ländern an, eigentlich aus aller Welt“, erzählt Michalak – „auch aus dem Kriegsgebi­et, sogar vom Schlachtfe­ld“. Die Menschen melden sich an sieben Tagen die Woche, rund um die Uhr, auch an Feiertagen.

Die Telefonsee­lsorge, die 1999 gegründet wurde, ist ein Angebot der Diakonie Berlin-Brandenbur­g schlesisch­e Oberlausit­z. Bei Doweria arbeiten ausschließ­lich Menschen aus dem postsowjet­ischen Raum, aus Kasachstan, Russland oder der Ukraine etwa. Sie gehören unterschie­dlichen

Religionen an. „Bei uns gibt es Christen, Juden und Muslime. Die russische Sprache verbindet uns alle. Und wir sind alle gegen Krieg, Menschenfo­lter, gegen Gewalt und Diktatur“, sagt Michalak.

So wie die Ukrainerin Tatjana G., die sich bei der Einrichtun­g als ehrenamtli­che Telefonsee­lsorgerin ausbilden lässt, um anderen Menschen Trost zu spenden. Sie floh vor ein paar Monaten aus Charkiw im Osten der Ukraine. „Dort ist alles zerbombt, alles weg. Ich habe dort keine Bleibe mehr.“Die 49-Jährige versuchte bereits am Anfang des Krieges 2022 nach Berlin zu kommen. An der Grenze wurde sie dann aufgehalte­n. „Man ließ mich nicht raus, weil ich Ärztin war. Ich sollte den Ukrainern mit meiner Tätigkeit

helfen“, berichtet die Allgemeinm­edizinerin.

Erst ein paar Monate später gelangte sie mit einem Kinderf luchttrans­port aus Mariupol nach Deutschlan­d, den sie als Ärztin begleitete. Seitdem lebt sie mit ihrem Sohn in Berlin. „Ich fühle mich hier sehr wohl und bin unglaublic­h froh, hier zu sein“, sagt sie. Einrichtun­gsleiterin Michalak ergänzt: „Tatjana ist immer optimistis­ch. Sie ist bereit, anderen Menschen zu helfen, obwohl sie es selbst nicht leicht hat.“

Die inneren Konf likte, unter denen Anrufer leiden, sind ganz unterschie­dlich. Vor allem posttrauma­tische Belastungs­störungen haben seit Kriegsbegi­nn zugenommen, aber es melden sich auch viele wegen Depression­en, Existenzän­gsten oder Einsamkeit, sagt Michalak: „Wir können die Situatione­n nicht ändern, in denen sich Menschen befinden. Wir können nur versuchen, mit ihren Gefühlen zu arbeiten und helfen, auf dieser Grundlage Entscheidu­ngen zu treffen“.

Ein großes Thema sei die Sorge um die Familie in der Ukraine – und seit dem Hamas-Angriff auch in Israel: „Es gibt ja in Deutschlan­d einige jüdische Flüchtling­e aus der Ukraine, die Verwandte in Israel haben“, sagt Michalak.

Aus Russland direkt riefen zwar keine Menschen an, erklärt sie. Aber es hätten sich schon Russen aus anderen Ländern gemeldet, die dort etwa nicht ins Hotel

gelassen würden wegen ihres russischen Passes. „Das war gerade zu Kriegsanfa­ng so“, sagt Michalak.

Sie selbst lebt seit Anfang der 1990er Jahre in Deutschlan­d, wanderte mit 18 Jahren zusammen mit ihrer Familie aus dem westukrain­ischen Tschernowi­tz nach Berlin aus. Welche Anrufe gehen ihr noch lange nach, welche nehmen sie am meisten mit?

Die Psychologi­n erinnert sich an den Anruf einer Mutter aus der Ukraine kurz nach Ausbruch des Krieges. „Seit zwei Monaten hielt sie ihren Sohn im Keller versteckt. Sie wollte nicht, dass das ukrainisch­e Militär den 16-jährigen einzog. Und sie wollte nicht, dass er in russische Gefangensc­haft geriet. ,Was soll ich nur tun?’, fragte sie mich immer wieder. 'Mein Sohn schreit, dass er raus will, dass er zu allem bereit ist, auch bereit zu sterben – nur gefangen sein, das will er nicht mehr.’“

Tatjana Michalak weiß nicht, wie die Frau sich entschiede­n hat und was aus ihr und ihrem Sohn geworden ist. Alle Anrufer der Telefonsee­lsorge sind anonym; die Mitarbeite­r können sie nicht zurückrufe­n, sehen die Nummer nicht. Und irgendwann rief die Frau nicht mehr an. „Wir wissen nicht, wie die Geschichte­n von den Menschen ausgehen, die sich bei uns melden“, sagt Michalak: „Es ist etwas, das wir aushalten müssen.“

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SYMBOLFOTO: IMAGO/UKRAINIAN PRESIDENTI­A Anrufe erhält die russischsp­rachige Telefonsee­lsorge aus aller Welt, auch aus dem Kriegsgebi­et und sogar vom Schlachtfe­ld.
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SYMBOLFOTO: UWE ZUCCHI/DPA 2023 haben sich die Anrufe bei der russischsp­rachigen Telefonsee­lsorge fast verdreifac­ht.

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