Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Wenn Bakterien zu Appetitzüglern werden
Magersucht ist schwer zu behandeln – Forscher hoffen, die Erkrankung über die Darmflora positiv beeinflussen zu können
Knapp 100.000 Menschen werden hierzulande wegen Magersucht behandelt, meist junge Frauen. Die Ursachen der Erkrankung sind vielfältig, die Therapie ist schwierig. Könnte der Schlüssel zu ihr im Darmmikrobiom liegen?
Das jüngste Indiz dazu liefert eine Studie, für die ein dänisches Forscherteam die Stuhlproben von 77 anorektischen Patientinnen genommen und deren mikrobiotische Zusammensetzung mit den Stuhlproben von 70 gesunden Frauen verglichen hat. Dabei zeigten sich deutliche Unterschiede in der Zusammensetzung der Darmflora, und im Blut der Anorexie-Patientinnen kursierten bakterielle Stoffwechselprodukte, die für ihre appetithemmende Wirkung beim Menschen bekannt sind. Doch es bleibt die Frage, ob diese Veränderungen die Ursache, oder aber die Folge der Erkrankung sind. Denn wenn ein Mensch kaum noch isst, hat das ja auch Konsequenzen für die mikrobiotischen Gäste in seinem Darm.
Zum Beantworten dieser Frage griffen die Forscher zur so gennannten Fäkaltransplantation: man übertrug den Stuhl (inklusive Mikrobiom) von Anorexie-Patientinnen und Mitgliedern der Kontrollgruppe auf die Därme von Mäusen, die keine eigene Darmflora hatten. Es passierte erst mal: nichts. Beide Gruppen entwickelten sich unauffällig, und ohne Unterschiede. Doch als man sie drei Wochen lang auf eine stark kalorienreduzierte, also eine für Magersüchtige typische Kost setzte, nahmen die anorektisch „geimpften“Nager deutlich stärker ab als die Kontrollgruppe. Und sie brauchten auch länger, um wieder zuzunehmen.
Studienleiter Oluf Pedersen sieht das als Bestätigung dafür, „dass ein stark gestörtes Mikrobiom zu einigen Phasen der Entstehung einer Magersucht beiträgt”. Doch ergeben sich daraus auch therapeutische Optionen? Beispielsweise dergestalt, dass man per Stuhltransplantation das Mikrobiom magersüchtiger Patientinnen aufforstet?
Isabelle Mack von der Abteilung Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Tübingen ist da skeptisch. „In einigen Fällen hat das geklappt, in anderen nicht“, betont die Ernährungswissenschaftlerin. Die Datenlage dazu sei dürftig. Außerdem müsse man bedenken, dass die anorektischen Patientinnen stark immungeschwächt sind. „Und falls dann über ein Stuhltransplantat schädliche Keime in ihren Darm gelangen, kann das zu erheblichen Problemen führen“, warnt Mack. Man sollte hier noch weitere Forschungen abwarten.
Aktuell sieht Mack größere Chancen bei den probiotischen Kulturen, wie man sie auf oralem Weg zuführen kann. Also etwa Joghurt, probiotische Drinks und Präparate. Wobei es auch hier weniger darum geht, dass man die Darmf lora der Patientin umstrukturiert und sie dadurch von ihrer Magersucht heilt. Aber viele Betroffene leiden unter Verstopfung, Blähbauch und anderen Verdauungsbeschwerden, weil der Magen-Darm-Trakt ja aufgrund der fehlenden Nahrungsaufnahme mehr oder weniger zur Untätigkeit verurteilt ist. „Hier könnte dann der Einsatz eines Probiotikums hilfreich sein“, so Mack.
Außerdem lässt sich über bestimmte Probiotika das Zentrale Nervensystem günstig beeinflussen. Der Grund: Die Darmflora produziert Hormone und Neurotransmitter, die in den Blutkreislauf und schließlich über die BlutHirn-Schranke ins Gehirn gelangen. Bei Magersucht-Patientinnen ist dieser Mechanismus gestört. So fand das Forscherteam m Pedersen bei seinen Probandinnen einen deutlichen Trend zum Abbau von Botenstoffen wie Dopamin, Glutamat und Tryptophan, was sich stark auf die Stimmungslage und verschiedene Hirnfunktionen auswirken kann.
Durch Probiotika und ihren Einfluss auf das Mikrobiom könnte man nun diesen Trend korrigieren. Einem Forscherteam der Universität Basel gelang es kürzlich, mit probiotischer Hilfe die Stimmungslage von depressiven Patienten aufzuhellen. Davon könnten auch magersüchtige Patientinnen profitieren. Denn nicht nur, dass sie 2,5 Mal häufiger an Depressionen leiden als die gesunde Bevölkerung. Die damit einhergehende Antriebsarmut gilt auch als einer der Hauptgründe, weswegen sich Magersucht so schwer behandeln lässt. Ein Pluspunkt der probiotischen Kulturen: „Sie werden in der Regel von den anorektischen Patientinnen akzeptiert“, betont Mack.
Dennoch warnt die Ernährungswissenschaftlerin: „Man sollte die Zusammenhänge mit dem Mikrobiom nicht überbewerten.“Gerade bei der Magersucht müsse man die triviale Tatsache berücksichtigen, dass die Energieaufnahme vor allem über den Dünndarm, und nicht über den Dickdarm und seine Darmf lora erfolgt. Und das bedeutet: Es geht erst mal darum, wie man die anorektische Patientin wieder zum Essen bewegen kann.