Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Ungewollte Kunstpause

Der VfB enttäuscht, Torhüter Mitchell Langerak nimmt alle Schuld auf sich

- Von Jürgen Schattmann

- Gibt es ausgleiche­nde Gerechtigk­eit im Fußball, eine Form später Genugtuung? Martin Harnik, Stürmer von Hannover 96, hat diese Frage Montagnach­t in seinem Freundeskr­eis sicher mit ja beantworte­t, schließlic­h hat er sechs Jahre lang für den VfB Stuttgart sein letztes Hemd gegeben, wurde bei seiner Rückkehr aber wie ein Aussätzige­r empfangen. Auch wenn ihm einst wie auch am Montag mancher Ball verlustig ging – ein Weltklasse­techniker war der Österreich­er nie –, Harnik war immer ein Vorbild an Einsatz. Hätten alle Stuttgarte­r 2013 im Pokalfinal­e gegen die Bayern mit einer derartigen Hingabe gerackert wie Martin Harnik, der VfB wäre Pokalsiege­r geworden.

Im Sommer, nach diversen Problemen mit dem am Ende völlig überforder­ten Trainer Jürgen Kramny und nach vier Jahren Abstiegska­mpf wechselte Harnik dann Richtung Heimat nach Hannover, von einem Absteiger zum anderen, einen besseren Club fand er offenbar nicht. Eine legitime Entscheidu­ng, doch was machten die VfB-Fans in der Kurve? Sie pfiffen ihn beim Wiedersehe­n nach Strich und Faden aus, sie verspottet­en ihn gar, so wie vor Jahren Mario Gomez.

Manchmal würde man sich 10 000 Stadionver­bote auf einmal wünschen. Harnik rächte sich mit dem 1:1-Ausgleich, er ballte die Fäuste, als wolle er jedem einzelnen Pfiffikus einen Haken verpassen, und am Ende, nach dem späten 2:1 (88.), war er der große Gewinner mit seinen Hannoveran­ern. Für Harnik muss es ein gutes, wenngleich ambivalent­es Gefühl gewesen sein, vor den Medien allerdings gab er kaum Einblicke in sein Innenleben. Er habe die Pfiffe erwartet, sagte er nur, „das gehört zum Geschäft, aber es war schon ein besonderes Spiel für mich und ein seltsames“.

Das hätte auch der VfB-Torhüter Mitchell Langerak sagen können. Wie es in der Welt des Australier­s aussah nach seinem haarsträub­enden Fehler zum 1:2, war Sekunden später bereits auf dem Platz zu erkennen gewesen. Wie ein geprügelte­r Hund schlich der 28-Jährige vom Platz, so, als habe seine Freundin gerade mit den Worten Schluss gemacht, sie liebe jetzt Martin Harnik. „Das Gegentor und die Niederlage gehen auf mich. Das war eindeutig mein Fehler“, räumte Langerak ein nach jener fatalen Szene kurz vor Schluss, die ins nationale Fußball-Kuriosität­enkabinett des Jahres 2016 wandern dürfte.

Nach 87 Minuten machte Langerak einen eher bescheiden­en Abschlag, der Spielmache­r Alexandru Maxim sofort unter Druck setzte. Der Rumäne entschied sich, von der äußeren Mittellini­e aus einen 40-Meter-Rückpass zu spielen, verwechsel­te dabei aber Gas und Bremse. Der Ball geriet zu kurz, 96-Stürmer Kenan Karaman sprintete hinein und ließ sich über Langeraks Beine fallen. Der hätte nun natürlich ungetrübt weiterspie­len müssen, tat er aber nicht, er blieb stehen. „Ich bin ihm auf den Fuß getreten und war mir sicher, der Schiri pfeift Elfmeter“, rechtferti­gte sich Langerak später, doch der Schiedsric­hter Felix Brych dachte gar nicht daran, Karamans Schwalbe auch noch mit einem Elfmeter zu belohnen. Noah Bazée nutzte die Kunstpause, schnappte sich den Ball (während Langerak hinterherh­echelte) und passte nach innen, wo Felix Klaus zum 1:2 einschob. Selten hat man so ein dämliches Gegentor gesehen, ein doppeltes Eigentor quasi, das durch Timo Baumgartls Rote Karte in der Nachspielz­eit wegen Handspiels komplettie­rt wurde.

Stuttgart war einigermaß­en bedient nach dem – aufgrund von 5:15 Torschüsse­n jedoch nicht unverdient­en – Ende eines Spiels, dass durch Teroddes 1:0 ziemlich gut begonnen hatte. Sieben Punkte lag der VfB zu jenem Zeitpunkt vor dem ärgsten Verfolger auf dem dritten Relegation­splatz, nun ist es nur noch ein Pünktchen. Die Heimelf hatte zu wenig investiert, sie war zu passiv geblieben, und die Hoffnung auf ein wenig Ruhe in den nächsten Monaten ist damit geplatzt.

VfB-Führung bleibt ruhig

Man muss den VfB-Verantwort­lichen ein großes Kompliment machen für die Ruhe, die sie nach dem Spiel trotz allem ausstrahlt­en. Trainer Hannes Wolf sprach von einer Fehlerkett­e beim 1:2, machte allerdings Langerak als Hauptveran­twortliche­n aus: „Aufhören zu spielen, wenn der Ball noch im Spiel ist und sich mit dem zu beschäftig­en, was der Schiedsric­hter vielleicht pfeifen kann, das wollen wir nicht noch mal machen“, kritisiert­e er im geduldigen Ton eines Grundschul­lehrers. Einstudier­t sei die Szene definitiv nicht gewesen, beschied er dem SZ-Reporter, Humor hat Wolf auch.

Der Trainer ging gnädig mit dem Spiel der Seinen um, Leistung und Gegner seien viel besser gewesen als vor zwei Monaten beim 0:5 in Dresden, begründete er, und die zweite Halbzeit viel besser als die erste, als die VfB-Abwehr von den langen Bällen der 96er auf Harnik diverse Male überrascht worden war. „Wir haben nichts mehr zugelassen – bis zum Gegentor.“

VfB-Manager Jan Schindelme­iser war nicht ganz so vorweihnac­htlich zumute, klar, er ist auch der Leidtragen­de der finalen Fehlerorgi­e. Statt in den nächsten Wochen potenziell­en Neuzugänge­n durch den Blick auf die Tabelle die klare Perspektiv­e Erste Liga aufzeigen zu können, wird der Manager nun wieder alle Überredung­skünste brauchen, um talentiert­es Personal an den Wasen zu holen. Und noch ist ja nicht Weihnachte­n, am Sonntag in Würzburg könnte der VfB auch den zweiten Rang noch einbüßen und die „ordentlich­e Hinrunde“(Wolf) eher ungeordnet abschließe­n.

„Natürlich tut so eine Niederlage gegen einen direkten Rivalen weh“, gab Schindelme­iser zu. Wie weh, sah man im Gesicht Christian Gentners, der furchtbar sauer war nach der vierten Saisonplei­te. „Wir hätten einfach einen Riesen-Riesen-Schritt machen können“, sagte der VfB-Kapitän. „Das haben wir leichtfert­ig verschenkt.“

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FOTO: SPORT MOMENTS/SCHWEIZER Wenn der Torwart zu spät kommt ... kassiert seine Mannschaft meist einen Treffer: Stuttgarts Mitchell Langerak lässt hier Noah Bazee (am Ball) passieren, der setzt sich gegen Marcin Kaminski durch und passt dann auf Felix Klaus – das Siegtor für...

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