Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Müllers Appell für Aleppo
Entwicklungsminister fordert mehr humanitäre Hilfe
(sal/dpa) - Beunruhigende Nachrichten aus Aleppo: Syriens Regierung hat die Evakuierung im Osten der Stadt nur einen Tag nach Beginn wieder gestoppt. Die Führung in Damaskus und die Opposition gaben sich dafür am Freitag gegenseitig die Schuld. Russland als enger Verbündeter Syriens erklärte den Transport von Kämpfern und deren Familien aus Ost-Aleppo für beendet.
Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) hat derweil dazu aufgerufen, alles was möglich ist für die Flüchtenden in der umkämpften Stadt Aleppo zu tun. „Es ist wichtig, dass alles an humanitären Maßnahmen eingeleitet wird, dass keiner sterben muss, weil die medizinische Leistung oder Essen fehlt“, sagte Gerd Müller im Interview der „Schwäbischen Zeitung“. „Wir müssen humanitär eine Großmacht sein, nachdem Europa nicht imstande und nicht bereit ist, militärisch aktiv zu werden.“
- Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) ruft dazu auf, jetzt alles an humanitären Maßnahmen für Aleppo einzuleiten, was möglich ist. Sabine Lennartz hat mit Gerd Müller gesprochen.
Herr Minister Müller, sehen Sie in Aleppo jetzt ein Ende mit Schrecken?
Es ist unsäglich, was wir erleben müssen. Es zeigt leider die Handlungsunfähigkeit Europas. Jetzt kommt es darauf an, dass Hunderttausende Menschen, die seit Monaten Todesangst erleben mussten, überleben können. Es ist wichtig, dass alles an humanitären Maßnahmen eingeleitet wird, dass keiner sterben muss, weil die medizinische Leistung oder Essen fehlt. Daran arbeiten auch wir gerade.
Kann dann der Wiederaufbau beginnen?
Der Krieg in Syrien ist nicht beendet. Der IS ist nicht besiegt, ich habe gerade heute mit Jesiden gesprochen, die berichtet haben, dass 3000 Frauen in Vergewaltigungslagern gefangen sind, die nicht befreit wurden. Wir können keine Entwarnung geben. Wir müssen humanitär eine Großmacht sein, nachdem Europa nicht imstande und nicht bereit ist, militärisch aktiv zu werden. Dabei hat Europa sich in den letzten zwei Jahren humanitär von seiner guten Seite gezeigt. Deshalb können acht Millionen Flüchtlinge das Weihnachtsfest erleben und haben zumindest ein Zelt über dem Kopf. Wir investieren besonders in die Zukunft der Kinder, indem wir in Jordanien, im Libanon und der Türkei mehrere Tausend Lehrer für Flüchtlingskinder finanzieren, 8000 allein in der Türkei. Insgesamt können in der Region eine Million Kinder mit deutscher Hilfe zur Schule gehen.
Humanitär eine Großmacht zu sein, bedeutet das auch, wie Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller fordert, mehr Flüchtlinge aus Syrien nach Deutschland zu holen?
Wir müssen mehr vor Ort investieren. Die Menschen wollen, sobald der Krieg beendet ist, zurück in ihre Heimat und nicht zu uns. Wir müssen dabei auch nicht nur auf den Staat setzen, sondern auch auf die deutsche Öffentlichkeit, auf die vielen, die spenden und sich engagieren.
Auch die Leser der „Schwäbischen Zeitung“helfen mit einer Spendenaktion den Flüchtlingen im Nordirak. Wie wichtig ist ein solches Engagement?
Sehr wichtig. Private Spenden doppeln das staatliche Engagement. Wir haben jedes Jahr auf jeden staatlichen Euro einen privaten Euro. Besonders hilfreich sind auch Partner- schaften zwischen Städten und Gemeinden, auf deren Basis ganz praktische Unterstützung oder ein Jugendaustausch stattfindet. Solche Kommunalpartnerschaften fördern wir genauso wie Klinik-Partnerschaften: Jede deutsche Stadt hat eine Klinik, die Enormes vor Ort einbringen kann. Dazu haben wir ein Programm aufgelegt.
Wie viel Geld ist nötig?
Zur Finanzierung der Not der Flüchtlinge vor Ort sind sechs bis acht Milliarden Euro nötig. Das klingt viel, aber wir rechnen in Deutschland für eine Million Flüchtlinge mit 20 Milliarden Euro. Es ist also viel günstiger und humaner, vor Ort zu helfen.
Nigeria, Irak, Syrien, Ägypten, die Krisenherde wachsen täglich. Werden noch mehr Flüchtlinge nach Deutschland kommen?
Der Flüchtlingsdruck wird bleiben, denn die Not nimmt nicht ab. Aber wir können die Probleme der Welt nicht durch die Aufnahme einer weiteren Million in Deutschland lösen. Die Verteilung der Flüchtlinge in Europa funktioniert nicht, Europa muss schneller werden mit einem Gesamtkonzept für die Frage, wie viele Flüchtlinge die 28 Länder aufnehmen und wie sie verteilt und versorgt werden. Wir können nicht Griechenland und Italien am Anfang der Kette alleinelassen und am Ende zwei Drittel der Flüchtlinge in Deutschland aufnehmen.
Wo liegt für Sie eine Obergrenze?
Ich bin CSU-Politiker, und ich erlebe sie vor Ort. Helferkreise berichten, dass die Hälfte aus ihren Reihen aufgehört hat, weil sie nach zwei Jahren nicht mehr die Kraft haben. Wir können nicht auf dem Rücken der ehrenamtlichen Helfer für die Zukunft Versprechen machen, dass wir eine solche Aufgabe noch einmal schultern.
Sie waren gerade in den MaghrebStaaten, Algerien, Tunesien, Marokko. Wie ist ihre Erfahrung, kann man Flüchtlinge dorthin zurückführen?
Eindeutig ja. Und wir bieten dazu Programme an, dass sie nicht als Verlierer zurückkommen. Bevor sie zwei bis drei Jahre in Asylverfahren in Deutschland sind, bieten wir die freiwillige Rückkehr und die Integration von Ausbildungs- und Beschäftigungsprogrammen vor Ort an.
Muss Europa sich mehr um Afrika kümmern?
Ja, schließlich sind wir alle Afrikaner, vor 40 000 Jahren haben sich die ersten Menschen aus Afrika in Richtung Europa aufgemacht. Wir sollten nicht so arrogant sein. Die Kolonialmächte haben Afrikas Bevölkerung unterdrückt und ausgebeutet und darauf Europas Wohlstand aufgebaut. Wir haben eine geschichtliche Verantwortung, auch Deutschland. Afrika könnte zu einem Tiger-Kontinent werden. Schließlich haben wir dort nicht nur Elend, sondern auch junge Staaten, die erfolgreich wirtschaften, es gibt Aufschwung, Chancen und Reichtum. Die deutsche Wirtschaft sollte sich auf Partnerregionen konzentrieren.