Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Vergessene Minderheit
100 000 Christen im Nordirak leben als Flüchtlinge – Sie sehen sich nicht nur vom Islamischen Staat bedroht
Zählt Yohanna Petros Mouche all die Kirchen auf, die der Islamische Staat in den letzten zwei Jahren zerstört hat, muss er beide Hände benutzen. So viele sind es gewesen, die die Terroristen in Mossul oder in Karakosch überrannt haben. Mouche ist syrisch-orthodoxer Erzbischof von Mossul und sitzt im großen Empfangsraum seiner Residenz in Erbil. „Wir danken euch für eure Gebete“, sagt der Mann mit den blauen Augen zu Besuchern aus Europa. Er trägt schwarze Tommy-Hilfiger-Socken in offenen Sandalen.
Mouche ist es gewohnt, dass den Christen im Irak das Leben schwer gemacht wird. Seitdem vor 13 Jahren in Bagdad der Diktator Saddam Hussein gestürzt wurde, sind viele Christen aus Basra, aus Ramadi oder Tikrit in den Nordirak geflohen. Unter der kurdischen Autonomieregierung fühlen sie sich sicherer als im Rest des Landes, wo Minderheiten von den dominanten Schiiten ausgegrenzt werden.
Reiche und Flüchtlinge
Heute leben im gesamten Nordirak gerade mal 400 000 Christen, darunter 100 000 Flüchtlinge. Einige von ihnen sind im Flüchtlingscamp Ankawa II untergebracht. Im christlichen Stadtteil Ankawa in Erbil, wo auch der Erzbischof empfängt, leben die gehobene Mittelschicht, die Reichen und die Flüchtlinge. Der Stadtteil Ankawa ist so etwas wie das wirtschaftliche Zentrum des Nordirak: Es gibt Anwaltskanzleien, metallverarbeitende Betriebe und Arztpraxen. In den Shopping-Malls werden die neuesten Sportschuhe verkauft, in den Kneipen wird Alkohol ausgeschenkt. Bald soll ein Zentrum für Erlebnisgastronomie, das American Buffet Corner, eröffnet werden: In elf Restaurants können dort die Gäste gegen einen Festpreis so viel Ravioli, Falafel, Hummus, Garnelen oder Sushi essen, wie sie wollen.
Viele Christen eint das Bewusstsein der Gefahr und ein Misstrauen gegenüber den Muslimen. Man will nicht fort aus diesem schönen Land, in dem die Christen seit mehr als 2000 Jahren leben, und viele von ihnen zu Wohlstand gekommen sind. Die Christen wissen aber auch, dass sich die Geschichte immer wieder gegen sie gewandt hat, dass es Pogrome gab, in Damaskus, in Bagdad, auch in Erbil. Es eint sie also auch das Bewusstsein über die Verfolgung von ihren Glaubensbrüdern im Nahen Osten.
Der Bischof Mouche in seinem weiten Sessel in Ankawa möchte, dass alle irakischen Christen an ihren angestammten Plätzen bleiben. Nicht einmal aus der Hauptstadt Bagdad sollten sie fliehen, sondern gefälligst dort bleiben, wo sie sind, sagt er, damit jene, die sie verfolgen, nicht die Oberhand gewinnen. „Wir wollen kein christliches Homeland, kein Reservat für Christen im Nahen Osten“, erklärt er beinahe trotzig und fährt sich prüfend mit der Hand über seinen Bart.
Was der Bischof fordert, hören viele, die sich um die Sicherheit ihrer Frauen und die Zukunft ihrer Kinder sorgen, nicht gern. Die drei christlichen Familienväter jedenfalls, die in einem Büro im Flüchtlingscamp Ankawa II sitzen, wollen auf keinen Fall dorthin zurück, von wo sie geflohen sind. Diese Männer in akkurat gebügelten Hemden kamen aus Mossul und Karakosch. Man habe ihnen angeboten zum Islam zu konvertieren, andernfalls werde man sie umbringen. „Sie malten ein halbrundes Zeichen mit einem Punkt auf unsere Häuser, was bedeutete, dass hier Christen wohnen, die man töten und deren Häuser man besetzen kann“, sagt einer der Männer verbittert.
Sie sind 2014 und 2015 geflohen, mit nicht viel mehr als dem, was sie am Leibe trugen. „Der Irrsinn mit dem IS ist doch, dass sie behaupten, Gott gehöre ihnen, nur ihnen allein“, schimpft einer und sagt dann noch, was viele hier glauben, die lange friedlich mit ihren muslimischen Nachbarn zusammengelebt haben: „Die vom IS, das sind doch keine Muslime, die kennen den Koran nicht einmal.“
Das Lager Ankawa II wurde gebaut, als immer mehr Flüchtlinge, oder, wie es in der Helfersprache heißt, „intern Vertriebene“nach Erbil kamen. Heute wohnen 5500 Menschen dort, es gibt 13 Kirchen. Viele von denen, die heute in Ankawa in Containern leben, haben zuvor monatelang in Rohbauten gehaust. Doch in einem Rohbau ist man den Gewalten des Wetters fast ebenso schutzlos ausgeliefert wie im Freien. „Der Irak hat uns damals kein Glas Wasser gebracht, alles hier in diesem Camp wurde aus Europa bezahlt, vieles von der Caritas“, sagt einer der Männer.
Eisdiele und Friseur
Das Schlimmste neben der Ungewissheit darüber, ob und wann sie in ihre Heimatorte zurückkönnen, sei das Nichtstun, sagen die Männer im Flüchtlingscamp Ankawa II. Sie haben früher in der irakischen Verwaltung gearbeitet und kommen sich jetzt nutzlos vor. Dabei ist Ankawa ein Camp, in dem es vor Initiative nur so brodelt: Ein Friseur hat sein Geschäft eröffnet, wenige Meter weiter betreibt ein Mann eine Eisdiele. Manche Flüchtlinge haben sich Terrassen vor die Wohncontainer gebaut und Blumen gepflanzt.
Abdullah Louis aus Karakosch hat sein Erspartes zusammengekratzt, um ein Restaurant zu eröffnen. Früher habe er in seinem Heimatort nahe Mossul einen Fischladen betrieben, sagt der 32-Jährige mit dem einjährigen Sohn Yussef auf dem Arm. So wie Abdullah Louis haben viele der Christen in Ankawa sich nicht in ihr Flüchtlingsschicksal gefügt. Viele, die heute in Containern leben, hatten früher große Häuser mit riesigen Gärten. Fast alle haben Verwandte irgendwo auf der Welt.
Der Schwager von Abdullah Louis ist nach Deutschland geflohen und lebt in Bremen. Aber er selbst will bleiben, so wie viele andere auch. Weil dies Heimat ist. Und weil es die historische Erfahrung gibt, weitergegeben von Generation zu Generation, dass man als Minderheit kriegerische Zeiten durchstehen muss, um am Ende friedlich weiterleben zu können. Auch wenn sich Bischof Mouche etwas anderes für seine Christen wünscht, sieht es so aus, als müssten die Menschen im Camp Ankawa II noch lange ausharren.