Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Aufregende Unberechenbarkeit
Noch ein letzter Höhepunkt zum Jahresabschluss: Tom Fords Film „Nocturnal Animals“
Haben Sie auch manchmal das Gefühl, ihr Leben sei zu etwas geworden, was es nie werden sollte?", fragt die Erzählerin anfangs aus dem Off. Dies ist ihr Porträt: Das einer Frau mittleren Alters aus der sehr neureichen High Society von Los Angeles. Sie heißt Susan und lebt in einer gut abgeschirmten, kameraüberwachten Villa aus Beton und Glas auf den Hügeln über der Stadt. Sie kennt „Oprah“und die angesagtesten Künstler persönlich, und ihre Ehe ist nicht gut. So weit also nichts Überraschendes in der zweiten Regiearbeit des Modedesigners und Filmautodidakten Tom Ford.
Doch dann wird alles anders. Amy Adams, der phänomenalen Hauptdarstellerin dieses Films, gelingt es auf Anhieb, uns für diese zunächst nicht sehr einnehmende Figur der Susan zu interessieren. Auch wenn sie anders lebt, als die meisten von uns, und vielleicht auch anders denkt, als die eine oder der andere, erkennen wir Gemeinsamkeiten: die Einsamkeit einer Individualistin, die so gut allein sein kann, dass sie irgendwann ihre Freunde vergisst. Die Sinnleere eines Daseins, das ganz auf Karriere und deren materielle Bestätigungen ausgerichtet ist.
Als Susan sich auf ein Wochenende in ihr Haus zurückzieht, im Wissen, dass ihr Mann gerade in einer Luxussuite an der Ostküste fremdgeht – es ist ihr irgendwie egal, sie hat ja genug Arbeit und irgendwie auch nicht –, erhält sie ein Paket. Darin findet sich ein Roman-Manuskript. Es stammt von Edward, ihrem ExFreund, der immer davon träumte, Schriftsteller zu werden, an den sie zunächst glaubte, dann weniger, um ihn schließlich zu verlassen. Jetzt hat er Erfolg, und will ihr Urteil hören zu seinem neuen Roman „Nocturnal Animals“, benannt nach jenen Geschöpfen, die einen nachts, zwischen Wachen und Traum, heimsuchen.
Im Folgenden gerät die Lektüre dieses Buches für die Leserin Susan zur Begegnung mit ihrer eigenen Vergangenheit. Und es wird schnell klar, dass genau das die Absicht des Ex-Freundes ist. Er benutzt dieses Buch, um den Dialog mit der Frau, die ihn einst verließ, wiederaufzunehmen und auf eine neue Stufe zu führen – zu seinen Bedingungen.
Film spielt auf drei Ebenen
Es ist ein perfider Plan, und der Film macht uns im mehrfachen Sinn zu dessen Komplizen. Denn Regisseur Tom Ford erweckt auch Edwards Buch zum Leben, und zugleich nimmt er uns mit auf eine Reise in die Vergangenheit von Susan und Edward. Es ist beeindruckend, wie Ford diese drei Ebenen – Gegenwart, Vergangenheit und Fiktion – in der Balance hält und wir als Zuschauer immer den Überblick haben.
Dabei kommt dem Regisseur sein zweites Leben als Modemacher zugute. Denn „Nocturnal Animals“ist etwas sehr Seltenes im zeitgenössischen Kino: ein Form bewusster Film. Kino, dass mit Ästhetik argumentiert, in Bildern und Kamerabewegungen spricht.
Das Sujet des Films ist zum einen die Macht der Fiktion: Die großen Erzählungen taugen nicht mehr, oder es gibt sie gar nicht, wird gern behauptet. Oh doch! Tom Ford zeigt ihre Macht, sein Kinofilm führt mitten hinein in die Abgründe der Narration, der Sprache, der Lektüre.
Mitten ins Herz
Zum anderen ist dies ein Streifen über die Dekadenz des Lebens der Reichen und Wohlhabenden im Westen, über die heimlichen Ängste des Bürgertums, über Sinnleere und den möglichen Sinn des Lebens. Es ist mit anderen Worten ein Film, der mitten ins Herz der Gegenwart trifft und uns alle angeht – Hollywood von seiner besten Seite.
Was für ein Abschluss eines Filmjahres, in dem neben Regisseurinnen auch allerlei sehr zeitgemäße, sehr abgründige Frauenfiguren im Zentrum vieler Produktionen standen. Was „Nocturnal Animals“unter all diesen aufregend macht, ist seine Unberechenbarkeit – selbst über sein Ende hinaus. Wie wird es weitergehen mit Susan, mit uns ...?
„Nocturnal Animals“, Regie: Tom Ford, USA 2016, 117 Minuten, mit Amy Adams, FSK: ab 16 Jahren.