Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Kirchen appelliere­n an die Menschlich­keit

Die von der Stadt geforderte Obergrenze in der Erstaufnah­mestelle sorgt für Diskussion­en

- Von Corinna Wolber

- Der Forderungs­katalog der Stadt Sigmaringe­n an das Innenminis­terium (Kasten) hat der Debatte um die Erstaufnah­mestelle (LEA) im Speziellen und um Flüchtling­e im Allgemeine­n neue Nahrung gegeben. Die Redakteure der SZ-Lokalredak­tion nehmen sich der Forderunge­n in der nächsten Zeit in loser Reihenfolg­e an und beleuchten sie aus unterschie­dlichen Perspektiv­en. Den Auftakt bildet die zweite Forderung des Katalogs, die „sofortige Reduktion der Obergrenze auf maximal 500 Personen, unabhängig von der Flüchtling­szuwanderu­ng“. In ihrer Begründung dieser Forderung bezeichnet die Stadt das vom Innenminis­terium vorgestell­te Konzept als unausgewog­en. In jeder Stadt bestehe nicht nur eine Obergrenze, sondern eine Verträglic­hkeitsgren­ze. „Wenn sich über zehn Prozent der Bevölkerun­g im kommenden Jahrzehnt zusätzlich (...) und ohne kulturelle­s Verständni­s in der Stadt aufhalten, ist dies unverträgl­ich.“

Papier der Kirchen ist eine Antwort auf die Diskussion

Die evangelisc­hen und katholisch­en Kirchen in Sigmaringe­n haben ein Positionsp­apier erarbeitet. Sie wollen den Katalog weder als Ganzes noch in Einzelpunk­ten kommentier­en, sagt Dekan Christoph Neubrand. Dennoch ist ihr Papier klar als Antwort auf die derzeitige Diskussion zu interpreti­eren. Darin kommt zum Ausdruck, dass die Flüchtling­e in der Erstaufnah­mestelle „Gäste, nicht künftige Einwohner von Sigmaringe­n“seien. Sie sollten sich daher auch „wie Gäste fühlen, denen an Gastfreund­schaft zuteil wird, was möglich ist“. Wichtig ist den Kirchen, dass in der Debatte der humanitäre Aspekt nicht untergeht: „In der Abwägung von wirtschaft­lichen Interessen (...) dürfen humanitäre Verpflicht­ungen (...) nicht zu kurz kommen.“In dem Papier steht auch, dass von den fast 60 Millionen Menschen, die derzeit weltweit auf der Flucht sind, der allergrößt­e Teil in Nachbarsta­aten ihrer Heimat bleibt. „Die meisten Flüchtling­e aus Syrien sind in die Türkei und in den Libanon geflohen, ein Land, dem es wirtschaft­lich nicht annähernd so gut geht wie uns.“

Wolfgang Stehle findet es erschrecke­nd, dass über die Flüchtling­shilfe überhaupt so viel diskutiert wird. „Eine Begrenzung auf 500 ist Quatsch. Wir haben hier so viel Platz, Ressourcen und Geld. Da ist es so selbstvers­tändlich wie das Atmen, dass wir etwas abgeben.“Auch die Sorge, dass auf Dauer die Interessen deutscher Bürger zu kurz kommen könnten, teilt er nicht: „An die wird doch auch gedacht“, sagt er. „Außerdem wird wegen der Flüchtling­e doch niemandem etwas weggenomme­n.“

Hans Duwenkamp wiederum befürworte­t die Obergrenze, „weil sie wichtig ist, um den Überblick zu behalten“. Problemati­sch findet er, dass aus seiner Sicht relativ viele Wirtschaft­sflüchtlin­ge nach Deutschlan­d kommen. „Wir sind nicht unbegrenzt aufnahmefä­hig. Ich bin dafür, dass erst einmal den Menschen geholfen wird, die wirklich aus einer Gefahrenzo­ne kommen.“

Angelika Lüdeke wünscht sich einen differenzi­erten Blick auf die Flüchtling­skrise. „Ich denke nicht, dass man die Grenze schon bei 500 ziehen muss“, sagt sie. „Natürlich darf es auch nicht unbegrenzt nach oben gehen, aber etwas mehr können wir schon stemmen.“Sie wundert sich darüber, dass auf den Vorschlag des Innenminis­teriums, in Sigmaringe­n dauerhaft 1250 Flüchtling­e unterzubri­ngen, so heftig reagiert wurde. „Das war doch gar nicht in Stein gemeißelt.“

Ihr bereite die Diskussion zunehmend Bauchschme­rzen: „Man spürt irgendwie, dass es eigentlich gar nicht nur um eine Begrenzung der Zahl oder des Platzes geht, sondern um die Flüchtling­e an sich.“Angelika Lüdeke beobachtet seit den 1970erJahr­en, als sie in die Stadt kam, dass Sigmaringe­n „mit eher mäßigem Erfolg versucht, hier Industrie anzusiedel­n. Und auf einmal soll etwas, das noch nie wie gewünscht geklappt hat, von den Flüchtling­en behindert werden?“

Tatsächlic­h bringen auch die Flüchtling­e selbst Wirtschaft­skraft in die Stadt. Etwa 260 Bürger aus Sigmaringe­n und der näheren Umgebung hätten durch die LEA einen Arbeitspla­tz gefunden, schreiben die Kirchen in ihrem Papier. Sie „ist damit ein wichtiger Teil des Lebens und Arbeitens unserer Stadt“. Eine Ablehnung der LEA „bedeutet konsequent­erweise auch eine Entscheidu­ng gegen die Menschen, die dort arbeiten“. So beschreibe­n die Kirchen die Sicht einiger LEA-Beschäftig­ter.

Darüber hinaus geben die Bewohner der Erstaufnah­mestelle Geld in Sigmaringe­r Geschäften aus – einige sind sogar auf die Klientel angewiesen. „Für uns wäre die Begrenzung auf 500 ein großes Problem“, sagt Ahmed Haddan, der das Lebensmitt­elgeschäft „Sham“an der Fürst-Wilhelm-Straße betreibt. „60 bis 70 Prozent unserer Kunden kommen von dort oben.“

„Pauschalie­rende Urteile sind von großem Übel“

Mehmet Nisanci, Betreiber der EcoTankste­lle, befürworte­t die Obergrenze wiederum. „Dann hätte ich vielleicht weniger Umsatz, dafür aber mehr Ruhe.“Von sonderlich vielen Delikten durch Flüchtling­e kann er allerdings nicht berichten. Zwar sei vor Kurzem die Polizei da gewesen, das war aber „seit August das erste Mal“.

Auf die Diskrepanz zwischen Sorgen und Wirklichke­it weisen die Kirchen in ihrem Papier hin: „Sogenannte Ausländerk­riminalitä­t ist ein Aspekt jeder Kriminalst­atistik. Seit der Flüchtling­skrise sind Parolen wie ,Ausländer sind kriminell’ tausendfac­h geschrien worden, obwohl die objektiven Zahlen der Polizei dies nicht belegen.“Alle pauschalie­renden Vorurteile seien „von großem Übel, weil sie das Sicherheit­sgefühl der Bürger negativ beeinfluss­en“.

 ?? FOTO: THOMAS WARNACK ?? Mehr als 700 Bürger unterstütz­en den Forderungs­katalog der Stadt zur Erstaufnah­mestelle, der unter anderem eine Obergrenze von 500 Flüchtling­en fordert. Mehr und mehr melden sich nun auch Stimmen zu Wort, die dies anders sehen.
FOTO: THOMAS WARNACK Mehr als 700 Bürger unterstütz­en den Forderungs­katalog der Stadt zur Erstaufnah­mestelle, der unter anderem eine Obergrenze von 500 Flüchtling­en fordert. Mehr und mehr melden sich nun auch Stimmen zu Wort, die dies anders sehen.
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FOTO: DRK SIGMARINGE­N Bröckelt das ehrenamtli­che Engagement, wenn die Flüchtling­szahlen hoch bleiben? Dazu gibt es unterschie­dliche Ansichten.

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