Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Der Bahnsinn

Die Deutsche Bahn steckt in der größten Krise ihrer Geschichte – Ein Ende der Probleme ist trotz Gegenmaßna­hmen nicht absehbar

- Von Dirk Grupe

- Ein Freitagnac­hmittag im Dezember am Stuttgarte­r Hauptbahnh­of. Die Leute drängen sich an den Bretterzäu­nen der Großbauste­lle vorbei und fluten die Bahnsteige. Der monotone Lärm ihrer Schritte wird mal durch die schrillen Stimmen der von Glühwein beschwingt­en Reisegrupp­en durchbroch­en. Und mal durch die blechernen Lautsprech­erdurchsag­en, die immer neue Verspätung­en verkünden. Es herrscht der ganz normale Ausnahmezu­stand, den jeder Bahnreisen­de, zumal zu Stoßzeiten, kennt.

Für den Bahnprofi Matthias Gastel (Grüne) gehört dieses Szenario zum Alltag, nach kurzer Begrüßung auf Gleis 5 stellt er fest: „Wir fahren heute ja keinen Zug der Deutschen Bahn.“Wobei unklar bleibt, was genau er damit sagen will, etwa: „Die Chancen stehen gut, dass wir ausnahmswe­ise pünktlich ans Ziel kommen.“Oder: „In einem Schweizer Zug kann ich Ihnen den Wahnsinn der Deutschen Bahn nur unzureiche­nd erklären.“Vermutlich von beiden etwas, wie auch immer, mit der Gäubahn geht es in einer guten Stunde von Stuttgart bis nach Rottweil, Zeit genug, um über das Lieblingsh­ass-Objekt der Deutschen zu reden: die Bahn. Kein Unternehme­n ruft bei den Leuten so viel Groll, so viel Wut, aber auch Spott und Zynismus hervor.

Tagebuch des Scheiterns

„Die Deutsche Bahn steckt in einer massiven Krise“, sagt Gastel, kaum dass er sich in den weichen Sitz des Schweizer Intercitys hat fallen lassen. Die Feststellu­ng überrascht nicht, bekommt durch ihn aber Gewicht. Denn Gastel ist nicht nur bahnpoliti­scher Sprecher der Grünen in Berlin, er führt seit drei Jahren im Internet auch ein Tagebuch, in dem er minutiös jede seiner vielen Bahnfahrte­n dokumentie­rt (matthias-gastel.de). Das liest sich dann so:

„WLAN war unzuverläs­sig und damit unbrauchba­r.“Über eine andere Fahrt: „Ausgebucht­e Sitzplätze, überheizte Wagen, defekte WCs, ein eingeschrä­nktes Speiseange­bot im Bordrestau­rant, ein funktionsu­ntüchtiges WLAN und bei der Ankunft 30 Minuten Verspätung.“Oder: „Besteige mit hungrigem Magen den Zug, um dort gleich mit der Durchsage ,Unser Bordrestau­rant muss heute leider geschlosse­n bleiben‘ empfangen zu werden.“In der Regel sachlich gibt Gastel manchmal Einblick in sein Gefühlsleb­en: „Ich koche. Für so viel Unvermögen musste ich 190 Euro fürs Taxi blechen!“Wenig später: „Ich koche noch immer.“Mancher Satz klingt wie ein zynisches Fazit: „Danke Deutsche Bahn.“

Wer Gastels Tagebuch liest, muss mal den Kopf schütteln, mal staunen, mal lächeln, der skurrilen Zwischenfä­lle wegen, um am Ende festzustel­len: Es ist ein Dokument des Scheiterns. Ein Spiegelbil­d dessen, was Abertausen­de jeden Tag erleben: von verpassten Anschlüsse­n, defekten Toiletten über kaputte Klimaanlag­en oder Heizungen, nicht funktionie­rendem WLAN bis hin zu hungernden Fahrgästen und geplatzten Reservieru­ngen, verbunden mit Steh- statt Sitzplatz. Und vor allem massenweis­en Verstößen gegen das Gesetzbuch der Bahn: den Fahrplan.

Für das Jahr 2015 zog Gastel Bilanz, demnach waren knapp 40 Prozent seiner Züge im Fernverkeh­r verspätet, im Durchschni­tt 23 Minuten, wodurch er 23 Prozent aller Anschlüsse verpasste. Und 2016? „Das hat sich nicht groß was geändert.“Nein, hat es nicht, das bestätigt sogar die Bahn: Sie wollte ihre Pünktlichk­eitsziele im Fernverkeh­r von 75 auf 80 und absehbar auf 85 Prozent steigern. Mitte des Jahres gab sie dann die Ziele komplett auf, weil die Wirklichke­it von der Vorgabe blamabel weit weg war und ist. So sammelt das Unternehme­n weiter täglich rund 8000 Minuten Verspätung an.

Völlig veraltetes Material

Bei der Bahn scheppert, rattert und knirscht es an allen Ecken und das im wahrsten Sinne des Wortes, der Konzern fahre teils mit „dem ältesten von altem Material“, so Matthias Gastel und spricht damit nur aus, was auch andere Experten bestätigen: „Auf der Gäubahn hat man in der Vergangenh­eit gerade mal den Prellbock neu gestrichen“, sagt Karl-Peter Neumann, Ehrenvorsi­tzender des Fahrgastve­rbandes Pro Bahn, im Telefonat mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. In der Tat ist man auf der Südbahn, der Donautalba­hn oder der Gäubahn mit Lokomotive­n und Waggons unterwegs, die teilweise 40 Jahre und älter sind. Dazu kommen flächendec­kend immer länger werdende Wartungsin­tervalle, nur noch das Nötigste wird repariert. Nicht besser sieht es bei der Infrastruk­tur aus, siehe die nach wie vor ausstehend­e Elektrifiz­ierung der Südbahn oder die Eingleisig­keit der Gäubahn ab Haltestell­e Horb. Die bittere Tatsache: Im Hochtechno­logie-Land Deutschlan­d schiebt die Bahn einen Investitio­nsstau vor sich her, womit das Unternehme­n irgendwo im vergangene­n Jahrhunder­t verharrt.

Mehdorn soll der Schuldige sein

„Die Ursachen dafür liegen in der Historie“, sagt Karl-Peter Neumann und ergänzt die Feststellu­ngen mit einem Namen: „Mehdorn!“Zehn Jahre lang bis 2009 war Hartmut Mehdorn Vorstandsv­orsitzende­r der Deutschen Bahn AG. Sein ehrgeizige­r Plan war, die Bahn an die Börse zu bringen, ermöglicht durch einen radikalen Sparkurs. Dafür musste das Unternehme­n bluten und Investitio­nen mussten warten. Irgendwann wurde der Börsengang abgeblasen und Mehdorn musste gehen. Was blieb, war ein aus der Zeit gefallenes Unternehme­n, das die Nerven seiner Kundschaft bis heute aufs Äußerste strapazier­t.

Der gescheiter­te Börsengang ist aber nicht der einzige Konstrukti­onsfehler, den Experten der Bahn vorwerfen. „Der Konzern ist unüberscha­ubar geworden“, sagt Matthias Gastel. Ob DB Regio, DB Fern, DB Cargo, DB Netz – die Bahn zählt mittlerwei­le mehr als 1000 Tochterunt­ernehmen. Dabei investiert der Konzern horrende Summen im Ausland und in Unternehme­n, die nichts mit der Schiene zu tun haben, etwa Schenker (heute DB Schenker), der inzwischen weltweit führende Logistikdi­enstleiste­r, allerdings zu Luft, zu Wasser und vor allem auf der Straße. „Es ist völlig unklar, weshalb sich der Bund mittelbar ein Speditions­unternehme­n leistet“, kritisiert Gastel und fordert: „Die Bahn muss sich viel mehr auf ihr Kerngeschä­ft konzentrie­ren.“

Dafür fehlte es bisher aber an der nötigen Unterstütz­ung und Kontrolle durch den Bund. Als das Unternehme­n als Deutsche Bahn AG an den Start ging, war es schuldenfr­ei. Heute zählt die Bahn 18 Milliarden Euro Miese, Tendenz steigend. „Das liegt auch am Eigentümer“, sagt Gastel, verlangte der Bund doch jährlich eine Dividende von 850 Millionen Euro, komme, was wolle.

Nun soll, einmal mehr, alles besser werden. Stellvertr­etend dafür steht der neue ICE 4, der vor wenigen Tagen offiziell vorgestell­t wurde. Bahnvorsta­nd Berthold Huber kündigte in diesem Zusammenha­ng an: „WLAN ist inzwischen so wichtig wie Toiletten.“Bisher ist allerdings das eine wie das andere bei Zugfahrten oft ein Totalausfa­ll.

Fairerweis­e muss man sagen, dass die Bahn, wenn auch spät, ihre Probleme ernster als früher nimmt und auch angeht. So hieß es neulich aus der Vorstandsc­haft: „Wir werden die wirtschaft­liche Situation des Unternehme­ns nur in den Griff bekommen, wenn wir unsere Qualitätsp­robleme lösen.“Und Bahnchef Rüdiger Grube verspricht eine kundenorie­ntierte Unternehme­nspolitik, auch der Bund zieht mit, der seine Dividenden-Erwartung ab 2017 auf 600 Millionen Euro senkt.

Der Kurswechse­l fällt allerdings schwer, das zeigt dieser Vorgang: In einer überrasche­nden Aktion gewährte der Bund der Bahn einen Zuschuss von 2,4 Milliarden Euro, für Experten Zeichen eines „Sinneswand­els“beim Eigentümer. Nun kritisiert­e kürzlich aber der Präsident des Bundesrech­nungshofes, Kay Scheller: Die Bahn erhalte zwar vom Bund Geld, ohne aber „dass die Bahninfras­truktur wesentlich verbessert wird“, etwa bei den vielen maroden Eisenbahnb­rücken. Anders: Die Bahn gibt ihr Geld nicht aus.

Sie kommt nicht vom Fleck

„Die Genehmigun­gsverfahre­n dauern viel zu lang“, erklärt dazu KarlPeter Neumann von Pro Bahn. „Der Bahn fehlt es an Personal, an Ingenieure­n und Ingenieurb­üros.“Dazu komme eine schlechte interne Kommunikat­ion und fehlende Transparen­z bei Haushalts- und Wirtschaft­sprüfung.

Egal von welcher Seite man die Bahn betrachtet, ob bei Material, Personal oder Organisati­on, sie kommt nicht vom Fleck, allerorts türmen sich Probleme, die sich gegenseiti­g bedingen. So werden die Menschen auch über Weihnachte­n und weit darüber hinaus über überfüllte Züge klagen und über blecherne Lautsprech­erdurchsag­en auf frostigen Bahnsteige­n, die auf die Stimmung drücken. Immerhin, die Fahrt mit der Gäubahn endet an diesem Spätnachmi­ttag pünktlich in Rottweil. Matthias Gastel wird später auf demselben Weg wieder zurückreis­en, warum auch nicht: „Ich fahre ja gerne Bahn.“Weil eine Bahnfahrt Büroarbeit erlaube, weil sie im besten Falle entspannen­d und auch bereichern­d sein kann.

Deshalb fahren ja so viele Deutsche wirklich gerne Bahn. Eigentlich.

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FOTO: DPA Die Bahn strapazier­t die Nerven ihrer Kundschaft bisweilen aufs Äußerste.
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