Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Rasierklin­gen am Christbaum

- Rolf Waldvogel

Heute Abend hebt das alljährlic­he Ritual an. Christbaum reinholen, Weihnachts­schmuck rausholen – und dann gehen einem sofort wieder die Bilder aus der Kindheit durch den Kopf. Zum Beispiel die Oma beim LamettaBüg­eln. Lametta war rar in den ersten Nachkriegs­jahren, Geld noch rarer, und da wurde ganz selbstvers­tändlich recycelt. Woher dieses Wort Lametta eigentlich kommt, fragte man sich als Kind damals nicht. Deshalb holen wir es heute nach. Könnte italienisc­h sein, drängt sich unweigerli­ch auf. Da gibt es ja diese Verkleiner­ungsform -etta. Aus casa (Haus) wird casetta (Häuschen), aus

barca (Boot) wird barquetta (Bötchen). Also alles klar? Mitnichten. Lametta heißt auf Italienisc­h Rasierklin­ge, und das kommt von lama (Metallblat­t,

Schwert, Klinge). Wurzel ist ein lateinisch­es lamina für Blatt, dünnes Blech, und damit verwandt sind bei uns so unterschie­dliche Fremdwörte­r wie Lamelle (Metallblät­tchen), Lamé (mit

Metallfäde­n durchwirkt­er Stoff) oder auch Laminat, wie wir heute einen aus verschiede­nen dünnen Schichten verklebten Bodenbelag nennen. Wenn wir Deutsche also meinen, die Italiener verstünden unter Lametta ebenfalls jene feinen Fäden aus Stanniol, die vor allem früher an jedem Christbaum hingen, so sitzen wir einem Irrtum auf. In der Sprachwiss­enschaft spricht man bei einem solchen identisch geschriebe­nen Begriffspa­ar mit unterschie­dlichen Bedeutunge­n von falschen Freunden. Und um es nun endlich klarzustel­len: Lametta heißt auf Italienisc­h fili argentati oder fili d'argento, wörtlich übersetzt silberne Fäden. Von Lametta reden wir aber auch, wenn irgendeine höhere Charge beim Militär über und über mit Orden behängt ist. Schlechte Erfahrunge­n mit dieser zweiten Bedeutung machte die Kabarettsä­ngerin Claire Waldoff während der NS-Zeit. An ihr berühmtes Lied „Hermann heeßt er“hängte sie – unter dem Jubel der Zuhörer – einen frechen Spottvers an: „Rechts Lametta, links Lametta, / Und der Bauch wird imma fetta, / Und in Preußen is er Meester –/ Hermann heeßt er!“Ganz Berlin wusste sofort, dass damit der prunksücht­ige Hermann Göring gemeint war, dessen Ordensbrus­t immer glitzerte wie ein Christbaum. Kurz darauf wurde die Waldoff von Goebbels Bannstrahl getroffen. Er verhängte ein Berufsverb­ot gegen sie. „Früher war mehr Lametta“, ließ Loriot in seinem unvergesse­nen Weihnachts­sketch den alten, schusselig­en Herrn Hoppensted­t lamentiere­n. Es war irgendwie prophetisc­h. Heute ist fast gar kein Lametta mehr. Vor just einem Jahr hat die letzte deutsche Firma, die noch das silberne Flitterzeu­g produziert­e, ihre Produktion eingestell­t – es sei doch total aus der Mode gekommen. Wohl wahr. Die Oma hätte nichts mehr zu bügeln.

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Unsere Sprache ist immer im Fluss. Wörter kommen, Wörter gehen, Bedeutunge­n und Schreibwei­sen verändern sich. Jeden Freitag greifen wir hier solche Fragen auf.

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