Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Rasierklingen am Christbaum
Heute Abend hebt das alljährliche Ritual an. Christbaum reinholen, Weihnachtsschmuck rausholen – und dann gehen einem sofort wieder die Bilder aus der Kindheit durch den Kopf. Zum Beispiel die Oma beim LamettaBügeln. Lametta war rar in den ersten Nachkriegsjahren, Geld noch rarer, und da wurde ganz selbstverständlich recycelt. Woher dieses Wort Lametta eigentlich kommt, fragte man sich als Kind damals nicht. Deshalb holen wir es heute nach. Könnte italienisch sein, drängt sich unweigerlich auf. Da gibt es ja diese Verkleinerungsform -etta. Aus casa (Haus) wird casetta (Häuschen), aus
barca (Boot) wird barquetta (Bötchen). Also alles klar? Mitnichten. Lametta heißt auf Italienisch Rasierklinge, und das kommt von lama (Metallblatt,
Schwert, Klinge). Wurzel ist ein lateinisches lamina für Blatt, dünnes Blech, und damit verwandt sind bei uns so unterschiedliche Fremdwörter wie Lamelle (Metallblättchen), Lamé (mit
Metallfäden durchwirkter Stoff) oder auch Laminat, wie wir heute einen aus verschiedenen dünnen Schichten verklebten Bodenbelag nennen. Wenn wir Deutsche also meinen, die Italiener verstünden unter Lametta ebenfalls jene feinen Fäden aus Stanniol, die vor allem früher an jedem Christbaum hingen, so sitzen wir einem Irrtum auf. In der Sprachwissenschaft spricht man bei einem solchen identisch geschriebenen Begriffspaar mit unterschiedlichen Bedeutungen von falschen Freunden. Und um es nun endlich klarzustellen: Lametta heißt auf Italienisch fili argentati oder fili d'argento, wörtlich übersetzt silberne Fäden. Von Lametta reden wir aber auch, wenn irgendeine höhere Charge beim Militär über und über mit Orden behängt ist. Schlechte Erfahrungen mit dieser zweiten Bedeutung machte die Kabarettsängerin Claire Waldoff während der NS-Zeit. An ihr berühmtes Lied „Hermann heeßt er“hängte sie – unter dem Jubel der Zuhörer – einen frechen Spottvers an: „Rechts Lametta, links Lametta, / Und der Bauch wird imma fetta, / Und in Preußen is er Meester –/ Hermann heeßt er!“Ganz Berlin wusste sofort, dass damit der prunksüchtige Hermann Göring gemeint war, dessen Ordensbrust immer glitzerte wie ein Christbaum. Kurz darauf wurde die Waldoff von Goebbels Bannstrahl getroffen. Er verhängte ein Berufsverbot gegen sie. „Früher war mehr Lametta“, ließ Loriot in seinem unvergessenen Weihnachtssketch den alten, schusseligen Herrn Hoppenstedt lamentieren. Es war irgendwie prophetisch. Heute ist fast gar kein Lametta mehr. Vor just einem Jahr hat die letzte deutsche Firma, die noch das silberne Flitterzeug produzierte, ihre Produktion eingestellt – es sei doch total aus der Mode gekommen. Wohl wahr. Die Oma hätte nichts mehr zu bügeln.