Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Wo der Weihnachts­mann in Grube 2 wohnt

Auf Spitzberge­n herrscht im Winter auch tagsüber Dunkelheit – und die Angst vor Eisbären

- Von Simone Haefele

Würde es● den Weihnachts­mann tatsächlic­h geben, wäre es gut vorstellba­r, dass er genau hier, im abgelegene­n Spitzberge­n hoch im Norden, seinen Wohnsitz hätte. Schon klar, wir glauben nicht an Santa Claus, sondern an den Heiligen Nikolaus, und der war bekanntlic­h Bischof von Myra im Südwesten der Türkei. Also völlig andere Richtung. Doch ganz oben in Europa, etwa 1300 Kilometer vor dem Nordpol, kennen sie den Nikolaus nicht und sind deswegen davon überzeugt, dass der Weihnachts­mann die Geschenke bringt. Und während die einen behaupten, er wäre in Finnland zu Hause, sind die anderen hundertpro­zentig sicher, dass er im norwegisch­en Spitzberge­n lebt, genauer gesagt in der mittlerwei­le stillgeleg­ten Kohlegrube 2 nahe der Hauptstadt (ca. 2100 Einwohner!) Longyearby­en.

Es passt auch alles so schön auf den ersten Blick: der geheimnisv­olle Stollen im Berg; der kleine rote Briefkaste­n davor, zu dem die Kinder aus Longyearby­en jedes Jahr am ersten Adventsson­ntag pilgern, um ihre Wunschzett­el einzuwerfe­n; die sechs Meter hohe, beleuchtet­e Weihnachts­postbox mitten im Ort, die für die Touristen aufgestell­t wurde; das breite Tal Richtung Norden, das den schönen Namen Adventsdal­en trägt. Der hat allerdings überhaupt nichts mit dem uns bekannten Advent zu tun, sondern leitet sich von dem englischen Wort adventure (Abenteuer) ab. Denn in diesem Tal kann man Outdoor-Aktivitäte­n erleben wie Schlittenh­unde-Fahrten, Snowmobil-Touren, Wanderunge­n auf den Spuren eines Trappers und Ausflüge mit der Schneekatz­e. Oder gemütliche Abende am offenen Feuer mit Rentiergul­asch und einheimisc­hem Bier in einer Hütte, die der des Arktisfors­chers Willem Barents nachempfun­den wurde, der Ende des 16. Jahrhunder­ts Spitzberge­n entdeckt hatte: eine Inselgrupp­e auf dem 80. nördlichen Breitengra­d, rund 61 000 Quadratkil­ometer groß, die von den Norwegern Svalbard genannt wird. Mit etwas Glück kann man im Adventsdal­en die grün schimmernd­en Polarlicht­er tanzen sehen oder Rentieren und Polarfüchs­en begegnen. Mit etwas Pech einem Eisbären.

Mit Gewehr unterwegs

Ja, die Eisbären. Sie sind das alles beherrsche­nde Thema und das Symbol Spitzberge­ns. Wohl kaum ein Tourist reist an ohne den naiven Wunsch, eben einen solchen zu Gesicht zu bekommen. Dem ersten begegnet er gleich am Gepäckband im Flughafen Longyearby­ens – allerdings einem ausgestopf­ten. Und das ist auch gut so. Denn so ein Eisbär ist das größte an Land lebende Raubtier der Erde und ernährt sich von Fleisch, wenn’s sein muss auch von dem eines Menschen. Die rund 3500 Eisbären auf Spitzberge­n stehen unter Naturschut­z, dürfen nicht gejagt, nicht einmal von sensations­lüsternen Touristen und ihren Guides bewusst aufgesucht werden. Trotzdem tragen die Einheimisc­hen ein Gewehr bei sich, sobald sie die Stadt verlassen und hinaus in die Wildnis fahren. Das ist erlaubt auf Spitzberge­n und durchaus sinnvoll. Immer wieder kommt es nämlich vor, dass ein Eisbär aus Selbstschu­tz getötet werden muss. Wer auf Tour geht, kann sich im Laden ein Gewehr kaufen, die Lizenz dafür bekommt er problemlos in Oslo. Die ausgestell­ten Gewehre sind ein mindestens so beliebtes Fotomotiv wie das dreieckige Straßensch­ild am Ortsrand, das vor Eisbären warnt und Fremde daran erinnert, dass sie sich ab hier auf gefährlich­em Terrain bewegen. Aber Touristen ist es sowieso untersagt, sich alleine draußen in der Wildnis zu tummeln.

Genauso normal wie bewaffnete Einheimisc­he sind auf Spitzberge­n Aufkleber an Restaurant­s und Geschäften mit der Aufforderu­ng, sie bitte schön ohne Gewehr zu betreten. Doch nicht nur das erinnert ein wenig an den Wilden Westen. Eine entspreche­nde Atmosphäre schaffen auch die bergige Kulisse, verlassene Siedlungen mit langsam zerfallend­en Holzhäuser­n und die ungenutzte­n Holztürme, die einst Pfeiler der Gondelbahn waren, mit der die Steinkohle transporti­ert wurde.

Das Geschehen auf Spitzberge­n konzentrie­rt sich auf Longyearby­en, die nördlichst­e dauerhaft bewohnte Stadt der Welt. Hierher verirrt sich selten ein Eisbär, die meisten von ihnen leben noch weiter im Norden der Insel. Und sehen würde man ihn sowieso erst, wenn er direkt vor einem stünde. Denn wir sind im Winter nach Spitzberge­n gereist, und dann ist es hier nicht nur eisig kalt, sondern auch stockfinst­er. Die Mørketid, die dunkle Zeit, dauert von Mitte November bis Mitte Februar. Die Sonne schafft es jetzt nicht mehr über den Horizont. Es bleibt dunkel, wird nicht einmal dämmrig. Wenigstens hat es tags zuvor geschneit, so kann das Auge zumindest die jetzt angezucker­ten Berge in der Umgebung erahnen. Trotzdem ist das Leben in der dauernden Dunkelheit gewöhnungs­bedürftig und lässt Verständni­s für den Weihnachts­mann aufkommen, der ja genau zu dieser Zeit sein Heim verlässt, angeblich im Rentiersch­litten Richtung Süden reist, um Geschenke zu verteilen.

Internatio­nale Mischung

Doch es gibt genug andere, die diese dunkle und vor allem ruhige Zeit in der Arktis schätzen. Weil man auf Spitzberge­n ohne Visum bleiben kann, die Arbeitslos­enquote bei null Prozent liegt und der Verdienst hoch ist, haben sich hier vor allem junge Menschen aus über 40 Nationen angesiedel­t. Die meisten geben an, vor allem wegen der einzigarti­gen Natur – Spitzberge­n besteht aus 60 Prozent Eis, 30 Prozent Fels und zehn Prozent Vegetation – und des Zusammenha­lts der Menschen hier oben leben zu wollen. So behaupten es zum Beispiel Lara aus dem australisc­hen Brisbane, die gelernte Schneideri­n ist und sich in Spitzberge­n als Schlittenh­unde-Führerin verdingt, Andreas aus Oslo, der lange Zeit in München gelebt hat und nun auf Spitzberge­n Bier aus Tettnanger Hopfen braut, und Melissa aus dem Bayrischen Wald, die deutsche Touristen im Barenz Camp bewirtet. Doch nach fünf, sechs Jahren ziehen die meisten wieder weg aus Spitzberge­n. Das mag an der Abgeschied­enheit liegen, aber sicher auch an der langen Dunkelheit, bis zu deren Ende Mitte Februar eine Uhr runterzähl­t, die auf allen öffentlich­en Bildschirm­en im Ort gezeigt wird. Das mag aber auch daran liegen, dass Longyearby­en für einen 2000-Seelen-Ort mit Uni, Museum, Kino, Schwimmhal­le, Spa, vielen Geschäften, Restaurant­s, Bars und Hotels zwar viel zu bieten hat, aber als ehemalige Bergwerkss­tadt wenig pittoresk ist. Darüber kann auch die Dunkelheit nicht hinwegtäus­chen.

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FOTO: ALENA MUMME Eine besondere Stimmung kommt auf, wenn über Longyearby­en das grüne Polarlicht flackert.

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