Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Wo der Weihnachtsmann in Grube 2 wohnt
Auf Spitzbergen herrscht im Winter auch tagsüber Dunkelheit – und die Angst vor Eisbären
Würde es● den Weihnachtsmann tatsächlich geben, wäre es gut vorstellbar, dass er genau hier, im abgelegenen Spitzbergen hoch im Norden, seinen Wohnsitz hätte. Schon klar, wir glauben nicht an Santa Claus, sondern an den Heiligen Nikolaus, und der war bekanntlich Bischof von Myra im Südwesten der Türkei. Also völlig andere Richtung. Doch ganz oben in Europa, etwa 1300 Kilometer vor dem Nordpol, kennen sie den Nikolaus nicht und sind deswegen davon überzeugt, dass der Weihnachtsmann die Geschenke bringt. Und während die einen behaupten, er wäre in Finnland zu Hause, sind die anderen hundertprozentig sicher, dass er im norwegischen Spitzbergen lebt, genauer gesagt in der mittlerweile stillgelegten Kohlegrube 2 nahe der Hauptstadt (ca. 2100 Einwohner!) Longyearbyen.
Es passt auch alles so schön auf den ersten Blick: der geheimnisvolle Stollen im Berg; der kleine rote Briefkasten davor, zu dem die Kinder aus Longyearbyen jedes Jahr am ersten Adventssonntag pilgern, um ihre Wunschzettel einzuwerfen; die sechs Meter hohe, beleuchtete Weihnachtspostbox mitten im Ort, die für die Touristen aufgestellt wurde; das breite Tal Richtung Norden, das den schönen Namen Adventsdalen trägt. Der hat allerdings überhaupt nichts mit dem uns bekannten Advent zu tun, sondern leitet sich von dem englischen Wort adventure (Abenteuer) ab. Denn in diesem Tal kann man Outdoor-Aktivitäten erleben wie Schlittenhunde-Fahrten, Snowmobil-Touren, Wanderungen auf den Spuren eines Trappers und Ausflüge mit der Schneekatze. Oder gemütliche Abende am offenen Feuer mit Rentiergulasch und einheimischem Bier in einer Hütte, die der des Arktisforschers Willem Barents nachempfunden wurde, der Ende des 16. Jahrhunderts Spitzbergen entdeckt hatte: eine Inselgruppe auf dem 80. nördlichen Breitengrad, rund 61 000 Quadratkilometer groß, die von den Norwegern Svalbard genannt wird. Mit etwas Glück kann man im Adventsdalen die grün schimmernden Polarlichter tanzen sehen oder Rentieren und Polarfüchsen begegnen. Mit etwas Pech einem Eisbären.
Mit Gewehr unterwegs
Ja, die Eisbären. Sie sind das alles beherrschende Thema und das Symbol Spitzbergens. Wohl kaum ein Tourist reist an ohne den naiven Wunsch, eben einen solchen zu Gesicht zu bekommen. Dem ersten begegnet er gleich am Gepäckband im Flughafen Longyearbyens – allerdings einem ausgestopften. Und das ist auch gut so. Denn so ein Eisbär ist das größte an Land lebende Raubtier der Erde und ernährt sich von Fleisch, wenn’s sein muss auch von dem eines Menschen. Die rund 3500 Eisbären auf Spitzbergen stehen unter Naturschutz, dürfen nicht gejagt, nicht einmal von sensationslüsternen Touristen und ihren Guides bewusst aufgesucht werden. Trotzdem tragen die Einheimischen ein Gewehr bei sich, sobald sie die Stadt verlassen und hinaus in die Wildnis fahren. Das ist erlaubt auf Spitzbergen und durchaus sinnvoll. Immer wieder kommt es nämlich vor, dass ein Eisbär aus Selbstschutz getötet werden muss. Wer auf Tour geht, kann sich im Laden ein Gewehr kaufen, die Lizenz dafür bekommt er problemlos in Oslo. Die ausgestellten Gewehre sind ein mindestens so beliebtes Fotomotiv wie das dreieckige Straßenschild am Ortsrand, das vor Eisbären warnt und Fremde daran erinnert, dass sie sich ab hier auf gefährlichem Terrain bewegen. Aber Touristen ist es sowieso untersagt, sich alleine draußen in der Wildnis zu tummeln.
Genauso normal wie bewaffnete Einheimische sind auf Spitzbergen Aufkleber an Restaurants und Geschäften mit der Aufforderung, sie bitte schön ohne Gewehr zu betreten. Doch nicht nur das erinnert ein wenig an den Wilden Westen. Eine entsprechende Atmosphäre schaffen auch die bergige Kulisse, verlassene Siedlungen mit langsam zerfallenden Holzhäusern und die ungenutzten Holztürme, die einst Pfeiler der Gondelbahn waren, mit der die Steinkohle transportiert wurde.
Das Geschehen auf Spitzbergen konzentriert sich auf Longyearbyen, die nördlichste dauerhaft bewohnte Stadt der Welt. Hierher verirrt sich selten ein Eisbär, die meisten von ihnen leben noch weiter im Norden der Insel. Und sehen würde man ihn sowieso erst, wenn er direkt vor einem stünde. Denn wir sind im Winter nach Spitzbergen gereist, und dann ist es hier nicht nur eisig kalt, sondern auch stockfinster. Die Mørketid, die dunkle Zeit, dauert von Mitte November bis Mitte Februar. Die Sonne schafft es jetzt nicht mehr über den Horizont. Es bleibt dunkel, wird nicht einmal dämmrig. Wenigstens hat es tags zuvor geschneit, so kann das Auge zumindest die jetzt angezuckerten Berge in der Umgebung erahnen. Trotzdem ist das Leben in der dauernden Dunkelheit gewöhnungsbedürftig und lässt Verständnis für den Weihnachtsmann aufkommen, der ja genau zu dieser Zeit sein Heim verlässt, angeblich im Rentierschlitten Richtung Süden reist, um Geschenke zu verteilen.
Internationale Mischung
Doch es gibt genug andere, die diese dunkle und vor allem ruhige Zeit in der Arktis schätzen. Weil man auf Spitzbergen ohne Visum bleiben kann, die Arbeitslosenquote bei null Prozent liegt und der Verdienst hoch ist, haben sich hier vor allem junge Menschen aus über 40 Nationen angesiedelt. Die meisten geben an, vor allem wegen der einzigartigen Natur – Spitzbergen besteht aus 60 Prozent Eis, 30 Prozent Fels und zehn Prozent Vegetation – und des Zusammenhalts der Menschen hier oben leben zu wollen. So behaupten es zum Beispiel Lara aus dem australischen Brisbane, die gelernte Schneiderin ist und sich in Spitzbergen als Schlittenhunde-Führerin verdingt, Andreas aus Oslo, der lange Zeit in München gelebt hat und nun auf Spitzbergen Bier aus Tettnanger Hopfen braut, und Melissa aus dem Bayrischen Wald, die deutsche Touristen im Barenz Camp bewirtet. Doch nach fünf, sechs Jahren ziehen die meisten wieder weg aus Spitzbergen. Das mag an der Abgeschiedenheit liegen, aber sicher auch an der langen Dunkelheit, bis zu deren Ende Mitte Februar eine Uhr runterzählt, die auf allen öffentlichen Bildschirmen im Ort gezeigt wird. Das mag aber auch daran liegen, dass Longyearbyen für einen 2000-Seelen-Ort mit Uni, Museum, Kino, Schwimmhalle, Spa, vielen Geschäften, Restaurants, Bars und Hotels zwar viel zu bieten hat, aber als ehemalige Bergwerksstadt wenig pittoresk ist. Darüber kann auch die Dunkelheit nicht hinwegtäuschen.