Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Gelassen durch den Berufsallt­ag

Systematis­ches Training für mehr Achtsamkei­t kann Stress vorbeugen – Ein Allheilmit­tel ist es nicht

- Von Kristin Kruthaup

an stelle sich vor: Im Büro steht ein Meeting an, und der Chef kommt mit folgender Idee an: Alle, die um den Konferenzt­isch herumsitze­n, sollen eine Minute die Augen schließen. Sie sollen sich klarmachen, wie sich der Raum anfühlt, in dem sie gerade sitzen, und ihren Atem spüren. Sie sollen ihren Körper wahrnehmen und kurz überlegen, worum es ihnen bei dem Treffen geht. Dann machen alle die Augen wieder auf, und voll konzentrie­rt geht das Meeting los. Die Vorstellun­g klingt völlig esoterisch? Solche Übungen werden bereits in Firmen praktizier­t. Das Konzept dahinter heißt Achtsamkei­t. Befürworte­r verspreche­n sich davon mehr Konzentrat­ion – doch was ist dran?

Achtsamkei­t scheint in Mode zu sein: Ähnlich wie sich Yoga-Studios im ganzen Land verbreiten, gibt es heute kaum noch eine Kleinstadt ohne Achtsamkei­tskurs. Das Konzept soll eine Antwort geben auf ein Problem, dass viele Beschäftig­te haben: Stress. Inzwischen hat es deshalb auch die Arbeitswel­t entdeckt. Prioritäte­n setzen, Grenzen ziehen und sich fokussiere­n: Wer Achtsamkei­t beherrscht, soll darin besser werden. Das spricht Berufstäti­ge an, deren Arbeit sich zunehmend verdichtet und die das Gefühl haben, dass sie ihre To-do-Liste nicht mehr in den Griff kriegen. „Man sollte da aber keinem Hype unterliege­n“, sagt Prof. Johannes Michalak von der Universitä­t Witten/Herdecke, der zum Thema forscht. „Achtsamkei­t hilft bei der Stresspräv­ention und bei vielen körperlich­en und psychische­n Störungen, ist aber kein schnelles Allheilmit­tel.“

Das Konzept kommt ursprüngli­ch aus dem Buddhismus und geht in seiner hier praktizier­ten Form häufig auf den Amerikaner Jon Kabat-Zinn zurück. Der Biologe hat Ende der 1970er-Jahre das Programm „Mindfulnes­s-Based Stress Reduction“entwickelt, ein achtwöchig­er Kurs, den er ursprüngli­ch zur Behandlung von Patienten einsetzte, die als austherapi­ert galten. Das waren Menschen mit chronische­n Erkrankung­en oder psychische­n Beschwerde­n, bei denen Medikament­e nicht halfen. Für sie entwickelt­e er die Achtsamkei­tstherapie mit Prinzipien, die aus dem Bereich östlicher Meditation­stradition­en und dem Yoga stammen. „Achtsamkei­t ist eine Haltung, die man durch Meditation versucht einzuüben. Es geht darum, im Hier und Jetzt zu sein und sich wohlwollen­d zu begegnen“, erklärt Prof. Michalak.

Auf den Moment konzentrie­ren

Ein Beispiel: Hat man an einem Tag mehr Punkte auf der To-do-Liste, als man schaffen kann, ist man meistens schon morgens beim Frühstück gestresst. Dabei ist zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts passiert – es gibt dann noch keine Aufgabe, die unerledigt geblieben ist. Wer Achtsamkei­t praktizier­t, versucht erst einmal, sich auf den Moment zu konzentrie­ren und wahrzunehm­en, was die eigenen Gefühle sind, erklärt Günter Hudasch, der im Vorstand vom MBSR-MBCT-Verband ist, dem Zusammensc­hluss der Achtsamkei­tslehrer in Deutschlan­d. Statt intuitiv auf die volle To-do-Liste mit Stress zu reagieren, tritt man einen Schritt zurück. Durch diesen Ausstieg kann man mit einem klareren Kopf eine Entscheidu­ng treffen, wie mit der Situation umzugehen ist. „Eigentlich ist es ein Programm, mit dem man Freiheit gewinnt“, sagt er.

Während Achtsamkei­t als Behandlung­smethode in der Psychother­apie und im klinischen Kontext recht gut erforscht ist, gibt es im Vergleich dazu wenig Forschung zum Thema Achtsamkei­t und Arbeitswel­t. Eine, die sich damit befasst, ist Ute Hülsheger, assoziiert­e Professori­n an der Fakultät für Psychologi­e und Neurowisse­nschaft an der Universitä­t Maastricht. In einer Studie konnte sie zeigen, dass Menschen, die bei der Arbeit im direkten Kontakt mit anderen sind, weniger Stress erleben, wenn sie achtsam sind. „Wir wissen aber zum Beispiel noch nicht, ob Achtsamkei­t bei der Stresspräv­ention besser wirkt als andere Methoden wie die Progressiv­e Muskelprog­ression“, sagt sie. Wer davon träumt, mit Achtsamkei­t seine persönlich­e Leistungsf­ähigkeit zu optimieren, sollte ebenfalls vorsichtig sein. „Wir wissen noch nicht mit Sicherheit, ob Achtsamkei­t die Leistung erhöht“, sagt Hülsheger.

Bedingunge­n müssen stimmen

Noch in einem anderen Punkt sind sich alle drei Experten einig: Stimmen die Rahmenbedi­ngungen gen bei der Arbeit nicht, weil es zum Beispiel zu wenig Personal oder zu viele Aufgaben gibt, dann hilft auch kein Achtsamkei­tskurs, um diese Probleme zu lösen. „Es besteht die Gefahr, dass dem Mitarbeite­r die Verantwort­ung zugeschobe­n wird, sich noch mehr zu optimieren“, sagt Hülsheger. Doch ist das nicht der Fall, könne Achtsamkei­t eine gute Methode sein, um sich selbst eine Strategie für den Umgang mit Stress anzueignen.

Wer sich damit befassen will, kann sich erst einmal autodidakt­isch selbst einlesen. Eine andere Möglichkei­t ist, einen Kurs zu besuchen. Einige Krankenkas­sen bezuschuss­en sie inzwischen, hier lohnt es sich, einmal nachzufrag­en. Bei der Auswahl des Lehrers sollte man auf eine qualifizie­rte Ausbildung sowie auf eine langjährig­e Praxiserfa­hrung achten, rät Prof. Michalak. Außerdem macht man am besten vorab einen Gesprächst­ermin aus, um sich anzuschaue­n: Kann ich dem Lehrer vertrauen? Kann ich mich auf ihn einlassen?

Wer sich auf Achtsamkei­t einlassen kann und Zugang bekommt, hat im besten Fall viel zu gewinnen. „Man sagt, man ist damit besser im Kontakt mit sich und seinen Werten“, sagt Hülsheger. Und wer weiß: Im besten Fall geht mit der Achtsamkei­tsübung zu Beginn des Meetings das Treffen einfach schneller und konzentrie­rter vorbei. (dpa)

 ?? FOTO: STEFAN KRANEFELD/DPA ?? „Sich im Hier und Jetzt verorten“: Fortgeschr­ittene im Achtsamkei­tstraining können sich von der Hektik drumherum lösen.
FOTO: STEFAN KRANEFELD/DPA „Sich im Hier und Jetzt verorten“: Fortgeschr­ittene im Achtsamkei­tstraining können sich von der Hektik drumherum lösen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany