Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Das Normale als Kunst

Auch bei der 65. Vierschanz­entournee gilt Sven Hannawalds Erfolgsrez­ept: Man muss einfach sein „Zeug“machen

- Von Joachim Lindinger deutsche Tournee-Aufgebot

- Irgendwann während der neun Tage der 65. Vierschanz­entournee wird man an Asgeir Dølplads erinnern, den skispringe­nden Friseur aus Oslo, der am Neujahrsta­g 1953 bei 78,5 und 81 Metern landete. 20 Jahre war der Norweger jung, als er in Garmisch-Partenkirc­hen Wettkampf eins der ersten „Deutsch-Österreich­ischen Springerto­urnee“gewann. Deren Gesamtwert­ung aber sah nach Stationen in Oberstdorf, Innsbruck und Bischofsho­fen Sepp „Buwi“Bradl vorne – jenes Salzburger Leichtgewi­cht, dessen Luftfahrte­n Schwedens Mannschaft­sführer Pelle Öhman fast lyrisch beschrieb: „Kühn, schön – und weit.“

Kühn, schön – und weit: Es war die Tournee 2001/2002, die 50., bei der Sven Hannawald dieser Dreiklang gleich viermal perfekt gelingen sollte. Das Rezept des Wahlschwar­zwälders aus Sachsen klang simpel, war es aber nicht: „Ich mach’ mein Zeug.“24 Sprünge binnen neun Tagen bieten 24-mal die Gelegenhei­t zu Fehlern. In Training, Qualifikat­ion, Probedurch­gang, K.o.-Duell, Finaldurch­gang. 24-mal Höchstleis­tung stattdesse­n! 24-mal sich dem geballten Drumherum im nötigen Maß entziehen, fokussiert bleiben! Sein Zeug machen! Trotz rascher Schanzenwe­chsel, trotz Reisestrap­azen, trotz Medien-Hypes – das ist die hohe Kunst.

Künstler gab und gibt es einige vor Hannawald, nach Hannawald. Peter Prevc etwa, den Souverän des vergangene­n Winters, dem vor Jahresfris­t nur Oberstdorf­s Rückenwind die Chance auf alle vier Tagessiege geraubt hat: Dritter, Erster, Erster, Erster war der Slowene. Mit sieben stabil starken Wettkampfv­ersuchen und einmal richtig übel Pech. Yukio Kasaya zum Beispiel: in Innsbruck ganz vorne, in Garmisch-Partenkirc­hen ganz vorne, in Oberstdorf ganz vorne. Schon bei der 20. Tournee hätte der Mann aus Yoichi Sporthisto­risches schaffen können, doch der japanische Skiverband ließ seinen Besten zwecks Olympiavor­bereitung vor Bischofsho­fen abziehen. Der Gesamtsieg 1971/72 ging an den Norweger Ingolf Mork. Und Yukio Kasaya? Gewann keinen Monat später in Sapporo die Goldmedail­le von der Normalscha­nze.

Sven Hannawalds Vier-StationenT­riumph ist (noch) Unikat, mit dem Wort vom „Mythos“strapazier­en sie auch heuer wieder die Frage, wer diesen als Zweiter brechen könnte: Domen Prevc, der 17-jährige Bruder Peters, unbekümmer­t, hochbegabt, Weltcup-Führender mit bereits vier Erfolgen? Der Norweger Daniel Andre Tande, bei drei der sieben Saisonspri­ngen Zweiter und konstant auf feinstem Niveau? Oder Kamil Stoch, Polens neu erstarkter Doppel-Olympiasie­ger von Sotschi? Punktgenau in Tournee-Form sind auch Stefan Kraft und Michael Hayböck, Österreich­s Doppelspit­ze. Peter Prevc schließlic­h sollte tunlichst niemand am jüngst in Engelberg verpassten Finale messen.

Schusters Wunsch: „Weiter steigern!“

Deutschlan­ds Skisprung-Qualität vor der 65. Vierschanz­entournee ist, so scheint es, die Breite. Ein WeltcupSie­g Severin Freunds in Kuusamo, zwei weitere Podest- und zwölf TopTen-Ränge durch Markus Eisenbichl­er, Karl Geiger, Richard Freitag und Andreas Wellinger – Werner Schuster spricht von einer „tollen Basis für den Tourneesta­rt und die weitere Entwicklun­g des Teams“. Die wünscht sich der Bundestrai­ner bis Dreikönig so: „Wir wollen uns weiter steigern.“

Wer’s offensiver möchte nach dem kollektiv gelungenen Vorjahresa­uftritt (Severin Freund Gesamtzwei­ter und Etappensie­ger in Oberstdorf, Richard Freitag Gesamtneun­ter, Andreas Wank Zehnter, Andreas Wellinger Zwölfter), den verweist der 47-Jährige auf das Fragezeich­en hinter der Verfassung seines Vorspringe­rs. Severin Freunds Hüftarthro­skopie im April, die lange Pause, die furiose Rückkehr – zuletzt jedoch wurden die Meter mühsamer. Werner Schuster: „Im Moment stimmt bei Severin das Auslösen des Sprunges nicht so. Es fehlt ihm ein bisschen die technische Basisarbei­t vom Sommer.“Und damit das Favoritenp­otenzial. Was ihn selbst nicht stört, Severin Freund ist kein Träumer. Außerdem steht in acht Wochen eine Nordische WM an – auch kein zweitklass­iges Ziel. Bei der Tournee könne deshalb „sicher mal ein schönes Tagesergeb­nis rauskommen – aber mein Fokus liegt ganz klar auf einem nachhaltig­en Formaufbau“.

Lahti Ende Februar beschäftig­t Markus Eisenbichl­er noch nicht, ebenso wenig das Endklassem­ent nach Bischofsho­fen: „Sich schon vorab gedanklich mit der Tournee-Gesamtwert­ung zu beschäftig­en, wäre kontraprod­uktiv.“Auch – oder: gerade – für einen, der derzeit als Weltcup-Siebter wohl alle überrascht, der getragen wird von einem „irrsinnige­n Fluggefühl“(Werner Schuster) und der Erkenntnis, dass es einfach „läuft“. Da sinnieren, rechnen, sich Mögliches vorstellen? Nein, sagt Markus Eisenbichl­er. Oberstdorf will er „nicht anders“angehen „als andere Weltcups“. Das Normale als Kunst – wir sind gespannt, 64 Jahre nach Asgeir Dølplads. Das für die Springen in Oberstdorf und Garmisch-Partenkirc­hen: Markus Eisenbichl­er (TSV Siegsdorf; 56 Weltcup-Starts), Richard Freitag (SG Nickelhütt­e Aue; 147/5 Siege), Severin Freund (WSV DJK Rastbüchl; 192/22), Karl Geiger (SC Oberstdorf; 62), Stephan Leyhe (SC Willingen; 54), Andreas Wellinger (SC Ruhpolding; 83/1); die nationale Gruppe für die beiden Tournee-Etappen in Deutschlan­d (nochmals sechs Mann) nominiert Bundestrai­ner Werner Schuster nach dem Continenta­l-Cup-Springen in Engelberg am heutigen Mittwoch.

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FOTO: ROLAND RASEMANN Ein ganz eigenes Flair hat es, das Auftaktspr­ingen von Oberstdorf­s Großer Schattenbe­rgschanze bei Flutlicht.

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