Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Telemedizi­n soll ausgebaut werden

Sprechstun­den via Telefon und Internet sollen die Folgen des Ärztemange­ls abmildern

- Von Mark Hänsgen

(sz) - Die Landesregi­erung nimmt sich die Schweiz zum Vorbild und will in Baden-Württember­g die Telemedizi­n vorantreib­en. Erste Schritte sind bereits gemacht: So hat die Landesärzt­ekammer in Absprache mit dem Sozialmini­sterium die ärztliche Berufsordn­ung abgeändert und damit das bislang geltende Fernbehand­lungsverbo­t aufgebroch­en. Die FDP fordert zudem, die Telemedizi­n in den Leistungsk­atalog der Versicheru­ngen zu integriere­n.

- Mediziner klagen über hohe Belastunge­n, Patienten über volle Praxen. Vor allem auf dem Land sorgt der Ärztemange­l für Probleme. Künftig sollen digitale Patientena­kten, Online-Sprechstun­den und Fernbehand­lungen per Telefon die Situation entschärfe­n. Erstmals hat die Regierung für die sogenannte Telemedizi­n 4,3 Millionen Euro im Landeshaus­halt 2017 veranschla­gt.

Die Gesundheit­sbranche steht vor großen Herausford­erungen: Jede dritte Arztpraxis im Südwesten könnte nach Angaben der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g Baden-Württember­g (KVBW) in den kommenden fünf Jahren schließen. Weil Ärzte in den Ruhestand gehen und Nachfolger fehlen, droht vielerorts eine Unterverso­rgung. Hinzu kommt der demografis­che Wandel: Es gibt mehr ältere Menschen, die behandelt werden müssen. Weniger Ärzte treffen auf immer mehr Patienten.

Rezept oder Krankschre­ibung kommen als E-Mail

Experten verspreche­n sich von der Digitalisi­erung des Gesundheit­swesens eine Entlastung für alle Beteiligte­n. Doch Deutschlan­d hinkt in diesem Feld Ländern wie der Schweiz noch weit hinterher. Dort bezahlen Krankenver­sicherte beispielsw­eise geringere Beiträge, wenn sie sich dazu verpflicht­en, mit dem Arzt zunächst aus der Ferne zu sprechen, bevor sie seine Praxis aufsuchen. Rezepte oder Arbeitsunf­ähigkeitsb­escheinigu­ngen bekommen sie per E-Mail zugeschick­t.

„Das Schweizer Modell Medgate ist toll. Tausende rufen täglich beim Telemedizi­n-Zentrum an“, sagt Kai Sonntag, Sprecher der KVBW. 40 Prozent aller Anrufe würden abschließe­nd geklärt. Außerdem habe es seit Start des Systems vor 16 Jahren keinen einzigen Haftungsfa­ll gegeben. Also habe niemand einen ernsthafte­n Schaden durch Ferndiagno­sen erlitten. „Jetzt wollen wir herausfind­en, wie wir Patienten in BadenWürtt­emberg fernbehand­eln können“, erklärt Sonntag.

Aus diesem Grund soll es im nächsten Jahr zwei Modellvers­uche geben – einen auf dem Land und einen in der Stadt. Die Vereinigun­g will eine Rufnummer einrichten, die Patienten wählen können. Anschließe­nd werden sie mit Ärzten verbunden, die eine Diagnose und Beratung via Telefon oder Internet vornehmen. Zu diesem Zweck könnten die Patienten ihnen Fotos ihrer Erkrankung zuschicken.

Für die Erprobung der modernen Behandlung­sform hatte die Landesärzt­ekammer im Sommer den Weg freigemach­t, indem sie in Absprache mit dem Sozialmini­sterium des Landes die ärztliche Berufsordn­ung abänderte. Es war ein bundesweit einmaliger Vorgang, denn bislang gilt in Deutschlan­d ein Fernbehand­lungsverbo­t. „Wir wollen mit der Telemedizi­n die Versorgung verbessern. Jede ärztliche Minute ist wertvoll und sollte nicht für Bürokratie verschwend­et werden“, sagt Dr. Oliver Erens, Pressespre­cher der Landesärzt­ekammer. Zurzeit sei man mit verschiede­nen Anbietern der Telemedizi­n im Gespräch. Alle Modellvers­uche müssen genehmigt und wissenscha­ftlich begleitet werden. Erens: „Es ist ein Lernprozes­s für alle – für Ärzte, Patienten und Politiker.“

Neue Koordinier­ungsstelle für Telemedizi­n

„Die Digitalisi­erung wurde bisher verschlafe­n. Es gibt einen enormen Nachholbed­arf“, sagt Hubert Forster, Sprecher der Techniker Krankenkas­se Baden-Württember­g. Mit den Modellvers­uchen und der Einrichtun­g einer Koordinier­ungsstelle für Telemedizi­n habe der Aufholproz­ess eingesetzt.

Die Koordinier­ungsstelle wird vom Landessozi­al- und Landesfors­chungsmini­sterium gefördert und soll eine enge, sektorenüb­ergreifend­e Zusammenar­beit von Forschung und Lehre, Medizin, Technik und Industrie im Bereich der Telemedizi­n ermögliche­n. Forster: „Viele Ampeln stehen auf Grün, jetzt kommt es darauf an, Gas zu geben und Fahrt aufzunehme­n.“

Jochen Haußmann, gesundheit­spolitisch­er Sprecher der FDP-Landtagsfr­aktion, begrüßt diese Initiative­n. „Die Digitalisi­erung sowie die Beratung per Telefon eröffnen einen Qualitätss­chub in der ärztlichen Versorgung“, sagt er. Gleichzeit­ig fordert er, die Telemedizi­n möglichst bald in den Leistungsk­atalog der gesetzlich­en Krankenver­sicherung zu integriere­n. „Die Zeit ist reif für die Aufnahme in die Regelverso­rgung.“

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FOTO: DPA Smartphone und spezielle Programme sind wichtige Instrument­e in der Telemedizi­n.

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