Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Telemedizin soll ausgebaut werden
Sprechstunden via Telefon und Internet sollen die Folgen des Ärztemangels abmildern
(sz) - Die Landesregierung nimmt sich die Schweiz zum Vorbild und will in Baden-Württemberg die Telemedizin vorantreiben. Erste Schritte sind bereits gemacht: So hat die Landesärztekammer in Absprache mit dem Sozialministerium die ärztliche Berufsordnung abgeändert und damit das bislang geltende Fernbehandlungsverbot aufgebrochen. Die FDP fordert zudem, die Telemedizin in den Leistungskatalog der Versicherungen zu integrieren.
- Mediziner klagen über hohe Belastungen, Patienten über volle Praxen. Vor allem auf dem Land sorgt der Ärztemangel für Probleme. Künftig sollen digitale Patientenakten, Online-Sprechstunden und Fernbehandlungen per Telefon die Situation entschärfen. Erstmals hat die Regierung für die sogenannte Telemedizin 4,3 Millionen Euro im Landeshaushalt 2017 veranschlagt.
Die Gesundheitsbranche steht vor großen Herausforderungen: Jede dritte Arztpraxis im Südwesten könnte nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) in den kommenden fünf Jahren schließen. Weil Ärzte in den Ruhestand gehen und Nachfolger fehlen, droht vielerorts eine Unterversorgung. Hinzu kommt der demografische Wandel: Es gibt mehr ältere Menschen, die behandelt werden müssen. Weniger Ärzte treffen auf immer mehr Patienten.
Rezept oder Krankschreibung kommen als E-Mail
Experten versprechen sich von der Digitalisierung des Gesundheitswesens eine Entlastung für alle Beteiligten. Doch Deutschland hinkt in diesem Feld Ländern wie der Schweiz noch weit hinterher. Dort bezahlen Krankenversicherte beispielsweise geringere Beiträge, wenn sie sich dazu verpflichten, mit dem Arzt zunächst aus der Ferne zu sprechen, bevor sie seine Praxis aufsuchen. Rezepte oder Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen bekommen sie per E-Mail zugeschickt.
„Das Schweizer Modell Medgate ist toll. Tausende rufen täglich beim Telemedizin-Zentrum an“, sagt Kai Sonntag, Sprecher der KVBW. 40 Prozent aller Anrufe würden abschließend geklärt. Außerdem habe es seit Start des Systems vor 16 Jahren keinen einzigen Haftungsfall gegeben. Also habe niemand einen ernsthaften Schaden durch Ferndiagnosen erlitten. „Jetzt wollen wir herausfinden, wie wir Patienten in BadenWürttemberg fernbehandeln können“, erklärt Sonntag.
Aus diesem Grund soll es im nächsten Jahr zwei Modellversuche geben – einen auf dem Land und einen in der Stadt. Die Vereinigung will eine Rufnummer einrichten, die Patienten wählen können. Anschließend werden sie mit Ärzten verbunden, die eine Diagnose und Beratung via Telefon oder Internet vornehmen. Zu diesem Zweck könnten die Patienten ihnen Fotos ihrer Erkrankung zuschicken.
Für die Erprobung der modernen Behandlungsform hatte die Landesärztekammer im Sommer den Weg freigemacht, indem sie in Absprache mit dem Sozialministerium des Landes die ärztliche Berufsordnung abänderte. Es war ein bundesweit einmaliger Vorgang, denn bislang gilt in Deutschland ein Fernbehandlungsverbot. „Wir wollen mit der Telemedizin die Versorgung verbessern. Jede ärztliche Minute ist wertvoll und sollte nicht für Bürokratie verschwendet werden“, sagt Dr. Oliver Erens, Pressesprecher der Landesärztekammer. Zurzeit sei man mit verschiedenen Anbietern der Telemedizin im Gespräch. Alle Modellversuche müssen genehmigt und wissenschaftlich begleitet werden. Erens: „Es ist ein Lernprozess für alle – für Ärzte, Patienten und Politiker.“
Neue Koordinierungsstelle für Telemedizin
„Die Digitalisierung wurde bisher verschlafen. Es gibt einen enormen Nachholbedarf“, sagt Hubert Forster, Sprecher der Techniker Krankenkasse Baden-Württemberg. Mit den Modellversuchen und der Einrichtung einer Koordinierungsstelle für Telemedizin habe der Aufholprozess eingesetzt.
Die Koordinierungsstelle wird vom Landessozial- und Landesforschungsministerium gefördert und soll eine enge, sektorenübergreifende Zusammenarbeit von Forschung und Lehre, Medizin, Technik und Industrie im Bereich der Telemedizin ermöglichen. Forster: „Viele Ampeln stehen auf Grün, jetzt kommt es darauf an, Gas zu geben und Fahrt aufzunehmen.“
Jochen Haußmann, gesundheitspolitischer Sprecher der FDP-Landtagsfraktion, begrüßt diese Initiativen. „Die Digitalisierung sowie die Beratung per Telefon eröffnen einen Qualitätsschub in der ärztlichen Versorgung“, sagt er. Gleichzeitig fordert er, die Telemedizin möglichst bald in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung zu integrieren. „Die Zeit ist reif für die Aufnahme in die Regelversorgung.“