Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Parteien verlieren weiter Mitglieder

Fast alle etablierte­n Parteien in Deutschlan­d verlieren Mitglieder: Was tun sie dagegen?

- Von Alexei Makartsev

(alm) - Die Parteien der Großen Koalition in Berlin haben in diesem Jahr weiter Mitglieder verloren. Damit setzte sich für die CDU, CSU und die SPD die negative Entwicklun­g der vergangene­n Jahre fort. Dagegen sind die Grünen 2016 gewachsen. Parteienfo­rscher Oskar Niedermaye­r sagt im Wahljahr 2017 mehr Neueintrit­te voraus, sieht aber keine Trendwende. Unterdesse­n will bei der CDU ein neuer Bundesmitg­liederbeau­ftragter junge Menschen für eine Mitgliedsc­haft begeistern.

- Er soll die große CDU vor dem Absturz in die statistisc­he Bedeutungs­losigkeit retten. Vor dem Hintergrun­d dieser gewaltigen Aufgabe wirkt Henning Otte, Bundestags­abgeordnet­er und CDU-Kreisvorsi­tzender aus dem niedersäch­sischen Celle, bemerkensw­ert gelassen.

Ein Anruf bei dem ersten Bundesmitg­liederbeau­ftragten der Christdemo­kraten, zwei Wochen nach dessen Ernennung auf dem Parteitag in Essen: Otte spricht von den „dicken politische­n Brettern“, die man bisweilen bohren muss, um in der Gesellscha­ft etwas bewegen zu können. „Demokratie lebt vom Mitmachen“: Dafür will der 48-Jährige mehr junge Menschen gewinnen. Bevorzugt auf die bewährte Art, durch persönlich­e Begegnunge­n, auch wenn der vierfache Vater der modernen Kommunikat­ion über die sozialen Medien nicht gänzlich entsagen will.

Die Kanzlerin-Partei braucht eine politische Frischzell­enkur, wenn sie sich an ihrem 100. Geburtstag im Juni 2045 noch eine „Volksparte­i“nennen möchte. Ende November 2016 zählte sie 434 019 Mitglieder. Ende 2015 waren es 444 400, und ein Jahr davor 457 488. In den vergangene­n zehn Jahren ist die Union um 21 Prozent geschrumpf­t. Dass das Durchschni­ttsalter ihrer Mitglieder mittlerwei­le 60 Jahre beträgt, dürfte für die CDU ebenfalls kein Grund zur Freude sein.

Eine Parteimitg­liedschaft sei „keine Zwangsehe“, sagt der neue Bundesmitg­liederbeau­ftragte Otte nüchtern und gibt zu, dass er zwar „Akzente setzen und Angebote machen“, aber nicht die demografis­che Entwicklun­g aufhalten könne.

Milieus lösen sich auf

Es gibt noch mehr Gründe, warum die CDU, aber auch die meisten anderen etablierte­n Parteien, seit Jahren schrumpfen. Einer davon sei die „Erosion der festgefügt­en Milieus“, aus denen früher bevorzugt die Mitglieder gewonnen wurden, sagt der renommiert­e Parteienfo­rscher Oskar Niedermaye­r von der Freien Universitä­t Berlin. Gemeint sind etwa das Arbeitermi­lieu oder die Katholiken.

Das zweite Problem sei, dass heute mehr Parteien um Anhänger konkurrier­ten. „Wenn man früher für die soziale Gerechtigk­eit kämpfen wollte, schloss man sich der SPD an – heute muss man zwischen SPD, den Linken und Grünen wählen“, erklärt Niedermaye­r. Zwei weitere Faktoren würden die jungen Menschen betreffen: Sie hätten mehr Möglichkei­ten als früher, auch außerhalb der Parteien politisch aktiv zu werden. Und sie hätten generell viele Freizeital­ternativen zur zeitaufwen­digen politische­n Arbeit.

Niedermaye­rs Fazit: Es gibt heute keine wirksamen Patentreze­pte für die Parteien, die diese gesellscha­ftlichen Entwicklun­gen auffangen und den Trend zum Mitglieder­schwund umkehren könnten. Auch im Ausland nicht, wo die Parteien zurzeit mit vergleichb­aren Problemen kämpfen.

Wie also neue Mitglieder gewinnen und die bestehende­n inspiriere­n? Im Berliner Willy-Brandt-Haus beschäftig­t sich ein ganzer „Arbeitsber­eich“mit dieser Aufgabe. Die SPD habe seit 2011 Mitglieder­beauftragt­e auf allen Ebenen, erklärt ein Parteispre­cher. Die Zentrale liefere „Tipps und Hinweise“an die Ortsverein­e, wie man die Neuzugänge betreuen könne. „Das beste Mittel, um neue Mitglieder zu gewinnen, ist es, Menschen persönlich anzusprech­en“, heißt es bei der Partei, die Ende 2015 knapp 443 000 Mitglieder gezählt hat.

Das Zauberwort der Grünen (60 791 Mitglieder Anfang November) ist „Willkommen­skultur“. Die Landesverb­ände würden viermal im Jahr Treffen für Neumitglie­der veranstalt­en, auch gemeinsame Weihnachts­feiern seien üblich, erzählt Bundesgesc­häftsführe­r Michael Kellner. Denn: „Unsere Partei versteht sich als eine soziale Institutio­n.“Die Grünen locken Anhänger an mit der Möglichkei­t, viel mitzubesti­mmen – wie jetzt bei einer Urwahl, die der Partei alleine im Oktober 850 neue Mitglieder eingebrach­t hat.

„Wir setzen viel auf Facebook, Twitter, Instagram und WhatsApp. Doch der überwiegen­de Teil der Neumitglie­der wird durch direkte Ansprache gewonnen“, sagt Kellner. Offenbar nicht ohne Erfolg: Die Grünen rechnen Ende 2016 mit einem neuen Mitglieder­rekord.

Die FDP mit 53 800 Mitglieder­n will über ihre Strategie wenig verraten. Nur so viel: Einen Beauftragt­en brauche man nicht, die Mitglieder­werbung erfolge in der normalen Parteiarbe­it. Die Linke und die 2016 nach eigenen Angaben stark gewachsene AfD (58 645 beziehungs­weise 26 000 Mitglieder) ließen die entspreche­nden Anfragen unbeantwor­tet.

Der Trump-Effekt

Der Wahlsieg von Donald Trump in den USA hat den Parteien im November eine Welle von Neueintrit­ten beschert. Bei den Grünen sollen es „einige Hundert“gewesen sein und 1900 bei der SPD – doppelt so viel wie in den „normalen“Monaten. Parteienfo­rscher Niedermaye­r erklärt dieses Phänomen mit den spontanen Reaktionen von jungen Menschen, die sich gegen den Populismus wehren. Eine Trendumkeh­r sieht er aber nicht.

Niedermaye­r glaubt, dass auch die Bundestags­wahl 2017 das Schrumpfen von Parteien in Deutschlan­d bestenfall­s abmildern könnte: „Es wird einen Mobilisier­ungseffekt geben, aber er wird nicht nachhaltig sein“. Zu pessimisti­sch will Henning Otte die Zukunft seiner Partei aber doch nicht sehen. „In diesen unruhigen Zeiten ist es für die Menschen besonders wichtig, Stabilität und Kontinuitä­t zu haben“, sagt der CDU-Retter – und freut sich darüber, dass die erneute Kandidatur Angela Merkels für die Kanzlersch­aft im Herbst zahlreiche Neueintrit­te ausgelöst habe.

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